Nanako Aramaki ist in der Welt zu Hause. Zu einem ihrer zahlreichen Lebensmittelpunkte zählt Berlin. Von hier aus startet die 31-jährige Flamencotänzerin ins kanadische Vancouver, nach Schottland, Dänemark, Kenia oder Spanien. Jetzt im August tritt sie beim größten Kunstfestival der Welt, dem schottischen Fringe-Festival, auf. Im November wird sie auch in den österreichischen Städten Wien und Linz auf den Bühnen stehen. Ihre Mission ist der Flamencotanz. Rund um den Erdball schätzt das Publikum ihre Geschmeidigkeit der Alegría mit Fächer und ihre Ausdruckskraft bei der Farruca.
Während im Japan des Jahres 1983 ein Erdbeben der Stärke 7,9 einen Tsunami auslöst, die japanische Volleyballmannschaften der Männer und Frauen die Asiatischen Meisterschaften gewinnen und die japanische Flamencozeitschrift „Paseo“ gegründet wird, erblickt Nanako das Licht der Welt. Ihrer Mutter entgeht keinesfalls, dass im Land der aufgehenden Sonne bereits Mitte der 80-er Jahre etwa 50.000 Japaner der andalusischen Flamencokunst verfallen sind. Schätzungen zufolge sind es heute mehr als 70.000. Auch sie wünscht sich in ein Studio zu gehen, um zu tanzen wie Carlos Sauras „Carmen“. Jedoch steckt die Familie in Reisevorbereitungen. Die Ferne ruft. Kanada soll das Zukunftsziel werden. Als Nanako drei Jahre alt ist, wandern Mutter, Vater und ihre zwei Geschwister nach Vancouver aus. Hier warten ein neues Leben und eine berufliche Zukunft. Der Gegensatz könnte krasser nicht sein: aus der Strenge des Landes der Kirschblüten hinein in eine multi- kulturelle Gesellschaft der neuen Welt.
Durch Kontakte zu japanischen Communities fällt der Einstieg in der Fremde leicht. Zu Hause wird japanisch gesprochen, da draußen aber natürlich englisch. Nanakos Mutter ist besonders davon begeistert, dass es auch hier im Norden einige Flamencostudios gibt. Endlich hat sie Zeit und Muße. Sie meldet sich an und erfüllt sich somit ihren Lebenswunsch. Auch Tochter Nanako bewegt sich früh nach der Musik von Stevie Wonder und Co. Sie beginnt bereits als kleines Kind mit Ballett, spielt Piano und wird später auf Jazz und Hip Hop umsteigen, sie ist animiert vom modernen Sound und dem schlagenden Beat. Aber immer wieder schwärmt ihre Mutter atemlos von ihren Flamencokursen, der spannenden Rhythmik, den tollen Kleidern, den schnellen Gitarristenfingern, den klagenden Gesängen, der Strenge der Choreografien und der Leidenschaftlichkeit der Blicke und Posen. Sie kann sich so gut ihre Tochter als Flamencotänzerin vorstellen. Die Kleine hat ja schließlich Rhythmus- und Taktgefühl, eine schnelle Auffassungsgabe und würde auch von ihrem Ausdruck gut passen. Aber Nanako lässt das erst einmal kalt. Für sie ist Flamenco eine eher altmodische Kunstform, gemacht für alte Leute, die nicht cool sind.
Auch im Land des Lächelns kennt man den Spruch, dass man niemals Nie sagen sollte. Nun doch etwas angepiekst, besucht Nanako mit 16 Jahren ihren ersten Flamencokurs und steht vor einem Problem. Wie soll sie jemals diesen verrückten 12er Rhythmus verstehen, auf welchem Schlag wird denn nun der Tanz beendet? Sie ist überrascht, wie leicht doch die modernen Tänze im Gegensatz zu Flamenco fließen. Es wurmt und animiert sie so sehr, dass sie immer wieder hingeht und ernsthaft versucht, Flamenco zu lernen. Bei der Kursleiterin Rosario Ancer ist Nanako gut aufgehoben. Die in Mexico geborene Flamencotänzeri startet ihre berufliche Laufbahn bereits 1980 in Spanien mit dem Ballet Español Antonio del Castillo. Ein Jahr später bekommt sie den Auftrag im Tablao Flamenco Arco de Cuchilleros in Madrid zu tanzen. Später tourt Rosario mit der María Velázquez Dance Company durch Südostasien. 1989 gründet sie gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Flamencogitarristen Victor Kolstee, in Vancouver ihre Flamencoschule. Rosario ist begeistert von Nanakos unbedingtem Willen Flamenco zu lernen und ihr gelingt es mit Erfolg den sportlichen Ehrgeiz der japanischen Kanadierin in die Faszination für den Flamenco zu verwandeln. Nach nur vier Jahren der Ausbildung tourt Nanako bereits mit der Rosario Flamenco Dance Company durch Kanada und Mexico. Sie liebt es auf der Bühne zu stehen und bejubelt zu werden. Doch ab und an bricht auch die strenge Japanerin in ihr durch. Das Leben sollte doch auf sicheren, starken Beinen stehen.
Als 20-jährige fühlt sich Nanako bereit für das Leben. Sie studiert Marketing, findet Jobs, verdient gutes Geld, macht einen eigenen Coffee- Shop auf, verdient noch mehr Geld und arbeitet manchmal sechzehn Stunden am Tag. Doch das ist zu viel. Ihre gewonnene Leidenschaft Flamenco will gelebt werden. Aber wie? Was nützt all das Geld, wenn sie nicht tanzen kann? Sie fasst einen Entschluss. Mit zweiundzwanzig Jahren, im Jahr 2007, zieht Nanako die Reißleine und landet weich in einer der Wiegen des Flamenco. Die heißeste Stadt Europas wird ihr Ziel: Sevilla. Es ist ihr tiefer Wunsch, noch mehr Flamenco zu lernen und ihn vor allem intensiv in all seinen Facetten zu begreifen. Nanako beginnt in der Fundación Cristina Heeren eine professionelle Ausbildung. Künstler wie Milagros Menjibar, Rafael Campallo, Ursula López und Carmen Ledesma füllen Nanako mit allem, was der Flamenco zu bieten hat. Ob Technik oder Compás, ob Flamencotheorie oder Choreografie. Tagsüber wird konzentriert trainiert, abends gelebt und gesprochen. In nur neun Monaten lernt sie spanisch und macht sich mit den Gepflogenheiten der andalusischen Lebensweise und Kultur vertraut.
Hier in Andalusien ist alles viel lauter und scheinbar lebendiger als anderswo in der Welt, ganz zu schweigen von dem Land, in dessen Erde ja Nanakos Wurzeln stecken: Japan. Dort ist alles leise und zurückhaltend, hier alles laut und emotional, dort wird meist ohne Urlaub gearbeitet, hier lässt man den lieben Gott auch mal einen guten Mann sein, dort findet das Leben drinnen statt, hier meist draußen auf den Plätzen der Cafés und Bars. Nanako wird klar, weshalb sich so überdurchschnittlich viele Japaner außerhalb Spaniens für Flamenco begeistern. Manche tanzen ja bereits in der dritten Generation. Flamenco ist wie Stressmanagement. Die Struktur ist zwar streng, aber ist der Grundstock an Technik erst einmal vorhanden, löst sich die Strenge in Luft auf und kann direkt in Emotion verwandelt werden.
Nanako hat ihre Lektion gelernt. Nun gibt es kein Halten mehr. Sie ist hungrig auf die Welt und reist mit einem Freund quer durch Europa, von Italien nach Frankreich, von Amsterdam nach Berlin. Die Metropole mit dem Untertitel „Arm aber sexy“ sollte nur eine von vielen Stationen im Jahre 2011 sein. Aber wie so viele vor und auch nach ihr bleibt sie hängen. Auch hier gibt es jede Menge Flamenco. Es fällt Nanako leicht, die Szene kennen zu lernen. Schnell sind Kontakte geknüpft und die ersten Auftritte gebongt. Gruppen wie Quejío, Mestizo Flamenco, Compañía Flamenco Azul schätzen ihren ausdrucksstarken und geschmeidigen Tanzstil. Mit Raphaela Stern choreografiert und tourt sie mit der erfolgreichen Show „Alas y Olas“ durch Deutschland. Seit nun vier Jahren hat Nanako einen ihrer Lebensmittelpunkte in der Flamencostadt an der Spree. Von hier aus reist sie nach Dresden, um mit dem Flamencogitarristen Johannes „Josel“ Ratsch eine Farruca einzustudieren. Früher wurde sie auf Alegrías festgenagelt. Alle Leute wollten immer diesen leichten und fröhlichen Stil bei ihr sehen. Nun sind für Nanako auch die schweren Palos des Cante jondo eine Herausforderung.
Durch Zufall lernt Nanako über die sozialen Medien vor rund einem Jahr den in Schottland lebenden Flamencogitarristen Ricardo García kennen. Der Internetkontakt wird schnell vermenschlicht. Nach kurzer Zeit tourt sie mit ihm durch Großbritannien, Dänemark und Kenia. Der weltoffene und äußerst freundliche Flamenco-Workaholic ist seit Jahren fester Bestandteil des berühmten Edinburgher Fringe-Festivals, als produktiver Botschafter der andalusischen Kunst. Hier treffen sich jedes Jahr im August tausende Musiker, Tänzer und Künstler aller Couleur, um drei Wochen lang die schottische Metropole vor internationalem Publikum zum Klingen zu bringen. Diesmal ist Nanako mit dabei. Sie wird bei großen Shows tanzen in prachtvollen Sälen, in kleinen, dunklen Pubs, auf offenen Plätzen, nicht immer unter Sonnenschein. Und sie wird hunderten Kindern von der Bühne aus unter dem Motto: „Flamenco for Kids“ die ersten Schritte beibringen. Immer an ihrer Seite der erfahrene Takt- und Melodiegeber Ricardo García. Es wird kein Zuckerschlecken. Nach täglich mindestens drei Aufführungen kleben schnell Pflaster am Golpe-Finger des Gitarristen. Wie Nanako ihre Fußsohlen verarzten wird ist mir noch ein Rätsel. Sicher ist beiden herausragenden Künstlern der Applaus eines staunenden Publikums.
Foto von Ralf Bienik.