Da stand ich also nun. Vor der Garderobe des großen Paco de Lucía. Ich war nervös. Ich kontrollierte dreimal mein Aufnahmegerät. Ich wusste bis zur letzten Minute nicht, ob man mich wohl vorlassen würde. Vor meinen Augen spielten sich alle möglichen Szenarien ab und am Ende war ich mir sicher: Die Türe würde sich einfach nicht öffnen und ich würde unverrichteter Dinge den Rückzug antreten. Macht nichts. Ich war zumindest nahe dran. Ich wusste es vorher, Paco de Lucía gibt keine Interviews. Oder nur selten. Er ist einfach müde. Er ist ein Superstar. Nein, das passt nicht. Das klingt nach Starmania. Nein, er ist ein wirklich Großer.
Ein Genie, eine Referenz für alle lebenden Gitarristen aller Sparten.
Erst kürzlich schrieb ich eine Konzertkritik über den klassischen Gitarristen Aniello Desiderio. Was ich verschwieg war die Taranta, die er spielte, als Referenz an den für ihn besten Gitarristen der Gegenwart. Ich verschwieg sein klägliches Scheitern.
Als die Türe aufging, war ich auf alles gefasst. Alles erschien mir plötzlich klein und unbedeutend. Die unglaubliche Geschichte des Francisco Sánchez Gómez , eines Jungen aus Algeciras, der von seinem Vater aus der Schule genommen wurde, als er Schreiben, Lesen und Rechnen konnte und der von da an seine Gitarre als einzige Hoffnung auf ein Leben hatte. Sein Vater muss es gesehen haben, was da schlummerte, sonst hätte er ihm das nicht zugemutet. Acht, zehn Stunden täglich nur er und seine Gitarre. Und er hat sich nicht geirrt. Was für ein Glücksfall für die Flamencogeschichte. Was für ein Glück für uns alle.
Die Türe ging auf und da war er also. Er sah mich kurz an und entschied in diesem Moment, dass er mit mir reden würde. Ein kurzer Moment des Vertrauens. Erleichtertes Lächeln im Gesicht des Managers Michael Stein. Er hatte mich ja eingeschleust.
Eine letzte Absicherung von Paco de Lucía: Nur ganz kurz, fünf Minuten. Nicht mehr. Doch da war mein Selbstvertrauen schon wieder da. Weg mit den vorbereiteten Fragen. Nähe schaffen, ihn interessieren, die Gunst der Stunde nützen. Denn, seien wir uns ehrlich: Welche Frage wurde ihm noch nicht gestellt: Keine. Außerdem: Fünf Minuten sind sowieso zu kurz.
Alice B. Toklas, kongeniale Partnerin der wegweisenden Schriftstellerin Gertrude Stein behauptete, sie sei in ihrem Leben nur dreimal einem Genie begegnet und jedes Mal spürte sie es sofort. Und das in einer Zeit, als es in Paris von bedeutenden Künstlern nur so wimmelte.
Nun genauso ist es. Ich spürte es in diesem Moment.
Und ich spürte noch etwas. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ich bin Susanne, wir haben uns schon einmal kennen gelernt. Kannst Du dich noch erinnern?
Sollte ich, ja. Aber weißt du was? Das Archiv ist voll. Zu viele Jahre, zu viele Namen in meinem Kopf.
Solange du dich an die Musik erinnerst …
Auch nicht, es ist einfach zu viel.
Tja, du hattest ja die Wahl. Oder ist doch alles Zufall, Schicksal oder wie immer man es nennen will?
Ich denke, es ist mehr Zufall. Nicht, dass ich jetzt an irgendeine Form der Vorbestimmung glaube, aber wie viele Momente in deinem Leben entscheidest du wirklich? Vor allem als Kind wirst du geprägt von den Umständen, dem Ort, an dem du aufwächst, der Erziehung deiner Eltern, dem Ambiente, das alles konditioniert dich schon und führt dich in eine bestimmte Richtung.
Oft sind es auch in Wirklichkeit deine Eltern, die entscheiden, welchen Beruf du ausüben wirst, die Fundamente, ob Du eines Tages Sieger oder Verlierer, Held oder Versager sein wirst, werden oft schon in der Kindheit gelegt.
Dein Vater hat dich schon sehr früh aus der Schule genommen und entschieden, dass du Gitarre spielen sollst.
Ja, das war seine Entscheidung und ich bin ihm dankbar dafür. Ich glaube, dass es gut ist, den Kindern den Weg vorzugeben. Es gibt keine guten oder schlechten Berufe und wenn man sich Mühe gibt …
Ich meine, wenn du dich anstrengst, kannst du auch kreativ sein in allem, was du tust, nicht nur als Künstler, auch als Maurer oder Tischler. Du musst versuchen, gut zu sein, in dem was du tust, dann macht es dir auch Spaß und du kannst es zu etwas bringen.
Das heißt also, man muss die Kinder manchmal zu ihrem Glück zwingen.
Genau das will ich damit sagen. Ich weiß, darüber kann man viel diskutieren, ob das jetzt diktatorisch ist und die Freiheit des Kindes usw, aber wenn du darauf wartest, bis dein Kind seine eigenen Entscheidungen treffen kann ist es oft schon zu spät. Wenn der Zug abgefahren ist, kannst du nichts mehr tun.
Ist das nicht auch das Problem vieler Jugendlicher heute, dass niemand ihnen sagt, wohin sie gehen sollen, diese Orientierungslosigkeit?
Ja, weil wir Eltern immer toleranter werden, oder liberaler, ich nehme mich da nicht aus, ich bin auch ein „moderner“ Vater. Man will sich ja dem Vorwurf nicht aussetzen, ein Despot zu sein. Ich bin jedenfalls froh darüber, dass mein Vater damals für mich entschieden hat, als ich es noch nicht konnte.
Klar, mit dir hat es ja auch funktioniert.
Natürlich gibt es da auch Irrtümer und falsche Entscheidungen. Deswegen fehlt mir da auch ein bisschen die Objektivität, was andere Fälle betrifft. Menschen, die scheitern, weil eine falsche Entscheidung für sie getroffen wurde. Das kann aber auch nur ein Vorwand sein, um deinen Eltern die Schuld dafür zuzuschieben, dass du in deinem Leben nicht dort bist, wo du sein wolltest. Ich bleibe dabei, dass du in jedem Beruf Erfüllung finden kannst, wenn du gut bist.
Als Musiker bist du ein Revolutionär und ein Kämpfer, wie ist das im wirklichen Leben?
Ich denke, ich wäre genauso, wenn ich mich für etwas anderes entschieden hätte. Meine Art, Dinge anzugehen wäre die gleiche gewesen. Ich habe mir zum Beispiel ein Haus in Mexiko gebaut. Ich habe keine Ahnung von Architektur, aber ich habe mich informiert, habe gelernt und das Haus geplant, mit professioneller Hilfe natürlich, aber ich habe es gebaut. Genauso wie ich dann die Olivenbäume pflanzte und kultivierte und ich erntete Oliven. Ich meine, ich bin neugierig, ich will wissen, wie Dinge funktionieren.
Du bist aber auch ein sehr ausgeglichener Mensch, wenigstens scheint es so.
Das ist leider nur ein Bild, das die Leute von mir haben. Ich bin das personifizierte Ungleichgewicht. Ich kann von einer Sekunde zur nächsten vom höchsten Glück ins tiefste Unglück stürzen. Ich muss mich vor mir selbst beschützen, vor diesem Teil meines Charakters.
Gibt es etwas, das dir Angst macht in unserer heutigen Welt?
Was mir am meisten Angst macht, ist, dass wir so viele sind. Im Moment beschäftigt mich das am meisten. Niemand redet darüber, es ist kein Thema und vielleicht sollte ich es auch nicht tun, man gibt den Leuten auch noch Geld, damit sie mehr Kinder bekommen, dabei sind wir Menschen eine Plage, die die Erde vergiftet und dabei ist, den Planeten zu zerstören. Warum muss man 15 Kinder haben? Warum gibt es da nicht mehr Kontrolle? Vielleicht ist das politisch nicht korrekt, aber die Umweltverschmutzung oder die Erderwärmung hängen doch vor allem damit zusammen, dass wir immer mehr konsumieren, weil wir so viele sind. Wir sind wie ein Krebs, der die Erde auffrisst und jede Zelle dieses Gewächses hat seine eigenen Ansprüche, jeder hat ein Anrecht auf 2 Autos, Klimaanlage, Heizung, von den Millionen Tonnen von Plastikabfällen will ich erst gar nicht reden. Wir zerstören einen wunderbaren Planeten, kümmern uns nicht um das ökologische Gleichgewicht, das ist es, was mir Angst macht, daran denke ich viel in letzter Zeit.
Was sollen wir tun? Wir können nicht zurück ..
Nein, aber wir müssen doch nicht so weitermachen. Das ist so typisch für uns: Weil wir nicht zurückkönnen, machen wir eben genauso weiter. Wenn ich schon so fett bin, dann ist sowieso alles egal, dann esse ich doch gleich weiter! Aber das stimmt nicht! Ich kann immer noch fetter werden und die Erde immer mehr zerstören. Wir müssten einfach die Notbremse ziehen.
Und da sind wir schon wieder bei den Kindern, denn mit ihnen müsste man doch anfangen.
Genau. Wenn ich an die Massen von Plastikspielzeug denke, die die Kinder bekommen. Als ich klein war, sparte ich das ganze Jahr, damit ich mir zu den Reyes einen kleinen Gummiball und eine Schultasche kaufen konnte, den Kindern wird durch das ganze Zeug auch jegliche Vorfreude genommen.
Und wie schützt du dich gegen diesen Wahnsinn?
Das ist schwierig. Eigentlich müssten unsere Regierung und unsere Politiker uns davor schützen, aber die interessieren nur die Zahlen und je mehr konsumiert wird, umso mehr Arbeitsplätze gibt es. Aber wie gesagt: Ich würde da ansetzen: Zwei Kinder sind genug!
Ich sehe, du wirst schon unruhig, man wartet auf dich mit dem Soundcheck, aber eine Frage muss ich dir stellen, obwohl ich die Antwort schon kenne, aber ich will sie einfach hören. Vermisst du Camarón noch immer?
Immer. Mein ganzes Leben lang. Camarón de la Isla hat mich verwaist zurückgelassen. Ich werde ihn immer vermissen.
Wir haben gemeinsam geschaffen, neue Wege gesucht und einen Teil meines Herzens, meines Lebens hat er mit sich genommen, als er ging.
Aber dir bleibt immer noch viel zu tun, oder?
Ja klar. Aber ich bin gerade 60 geworden und habe auch schon meine Wehwehchen, die Schulter, mein Arm, ich habe Nackenschmerzen und andererseits alle Lust dieser Welt weiterzusuchen.
Die Jahre sind ja nicht nur dazu da um alt und hässlich zu werden.
Genau. Mit den Jahren wird dir klar, dass du gegen die Natur nicht ankämpfen kannst. Es wird immer schwieriger einen Anreiz zu finden um weiterzumachen. Wenn du jung bist, willst du geliebt werden, du willst Anerkennung, Erfolg, Geld verdienen, berühmt werden usw. All das habe ich erreicht und es wird immer schwieriger eine Motivation für mich zu finden. Und von meinem Körper kann ich auch nicht mehr so viel verlangen wie früher.
Einerseits habe ich also den Kopf voller Ideen, voll Erfahrungen, die ich mit 20 Jahren noch nicht hatte und andererseits fehlen mir die Energie und die Lust zu kämpfen.
Das Leben ist also grausam.
So ist es.
Foto: Paco Manzano