Wenn Flamencos auf Reisen gehen und Flamenco sehen wollen – wohin gehen sie? Ins Tablao – oder ist das nur für Touristen? Die Antwort ist ein klares: ins Tablao! Die Tablaos erleben ein Comeback, sie erobern wieder ihren Platz als einen Ort, an dem Flamenco in höchster Qualität zu sehen ist und das aus allernächster Nähe. Das mag der Krise zuzuschreiben sein, aber nicht nur. Auch der Sehnsucht der Künstler, dem Publikum nahe zu sein und, fern von der Perfektion der Bühne zu zeigen, was sie wirklich können und was den Flamenco so einzigartig macht: Das Zusammenspiel, die Sensibilität und die Magie des Augenblicks, den wir alle erwarten: Das Entstehen des Duende, diese Glasglocke, die sich über uns legt und uns den „Pellizco“ verschafft, diese unvergesslichen, flüchtigen Momente, ihn denen Kunst entsteht und wir wieder wissen, warum uns diese Krankheit nicht loslässt. Farruco, Paloma Fantova, Dani de Morón, Marco Flores oder Olga Pericet: Sie alle sind in den besten Tablaos Spaniens anzutreffen und wir sagen Ihnen wo.
Ich bin im Tablao Casa Camarón de la Isla. In diesem Gitanoambiente sticht mir eine imponierende Gestalt ins Auge. Er ruft mich zu sich, er redet mit mir, als ob er mich schon immer kennen würde, er steht von seinem Stuhl auf und zeigt mir den Nagel seines kleinen Fingers. „So klein ist er“ sagt er mit durchdringendem Blick, um dem Gesagten noch mehr Bedeutung zu verleihen. „Er ist so winzig, aber er ist tödlich.“ Er spricht von dem Tumor, der Camarón tötete und er verwendet das Präsens, weil er sich nicht erinnert, sondern weil er jenen Tag noch einmal durchlebt, den Tag, an dem ihm ein Arzt in der Mayo Klinik bestätigte, dass Camarón sterben würde. Und er durchlebt es jedes Mal, wenn er es erzählt. Man nennt ihn Tío Candado und in seinem Haus verbrachte der Cantaor de la Isla seine letzten Tage. Heute ist der 23. Todestag und ich bin hier mit José Candado.
Dieses Lokal, dieser Altar in Form eines Tablaos wurde vor einigen Tagen in Barcelona eröffnet. Nur wenige wissen, was es wirklich ist und wenn ich meinen Freunden erzähle, wohin ich gehe, sehe ich, was sie denken: Dass ich mir die Blume ins Haar stecke und mich in die Flamencofolklore stürze. Ich werfe ihnen das nicht vor, zu viele der Betreiber haben durch den Kniefall vor den Touristen das Ansehen der Tablaos beschädigt. Und dennoch wird hier sehr fein gekocht: Camarón selbst ging durch diese Schule und in diesen Tagen nimmt Arcángel in einem Tablao seine neue CD auf. Warum? Um auf die historische Bedeutung dieser Orte hinzuweisen und um wieder mehr Nähe zu fordern zwischen den Künstlern und den Aficionados, die aus Furcht vor ihrer Unbestechlichkeit auf Distanz gehalten werden. Ja, es ist so, der Liebhaber der Arte jondo kann sich irren, aber er lässt sich nicht täuschen.
Ich mag das Entrée: Es gibt keine Absperrungen, die uns hindern zu sehen, was drinnen passiert. Es gibt einen Photocall, eine Bar und Tische, an denen Leute beim Essen sitzen. Im Saal sieht man Zuschauer warten und Künstler, die sich aufwärmen. An den Wänden hängen Fotos und dazwischen entdecke ich einen Zettel mit der unregelmäßigen Handschrift und drei orthografischen Fehlern von Camarón und einigen Dankeszeilen von Rocío Jurado an die Venta de Vargas. Daneben ein Foto von José und Rancapino.
Der Geschäftsführer Simón Montero möchte das Flamencopanorama der Stadt erweitern. „Wir möchten etwas anderes machen, für die Touristen auch, aber vor allem für die Leute von hier. Wir bieten eine Jamsession um 10 € an, das ist superbillig.“ Das stimmt, denn außer dem JazzSíClub gibt es in Barcelona kein Lokal, das eine gute Vorstellung zu diesem Preis anbietet. Ich bin neugierig, wer auf die Bühne kommt und als ich sie sehe, lecke ich mir die Lippen: Simón Román, der Mann mit der gewaltigen Stimme, der vor kurzem bei der Suma Flamenca überraschte, betritt die Bühne, gefolgt von Blas de Córdoba, ein „Camaronero“ durch und durch.
Sie kommen mit einem kompletten Cuadro, Tanz, Gitarre und Perkussion, aber im gleichen Moment denke ich an eine Szene in Schwarz Weiß, jene von Paco Cepero und Camarón im Tablao Torres Bermejas in Madrid, als sie ganz allein das Publikum an den Rand des Deliriums brachten. Ich frage mich auch, ob die kleine Touristengruppe weiß, dass gerade einer der besten Perkussionisten der Welt aufs Podium steigt: Piraña, der gemeinsam mit José Toledo das künstlerische Programm bestimmt. In diesem Tablao, von Gitanos geschaffen, sitzen die Calés in jeder Ecke. In der ersten Reihe ein Neugeborenes, immun gegen die Lautstärke, gewiegt von seiner Mutter, bewegt es schon sein Köpfchen in Richtung Bühne. So ernähren sich die Flamencos, kaum dass sie geschlüpft sind.
In der Mitte des Raums sitzt Tío Candado. Er fällt nicht durch seine Statur auf, auch nicht durch seine dicken, weißen Koteletten, auch nicht durch die Autorität, die von ihm ausgeht. Was uns nicht den Blick von ihm wenden lässt, ist die Ehrerbietung, mit der die Jungen sich zu ihm hinunterbeugen um ihn zu küssen oder ihn zu umarmen, mit dem gleichen Ausdruck und der gleichen Stimme, die sie verwenden, wenn sie von Camarón sprechen. José segnet sie, er spricht zu ihnen, gibt ihnen Befehle, ohne sie auszusprechen und verabschiedet sie. „Es scheint, dass jeder von denen schon einmal mit Camarón gesnifft hat oder zumindest einen Joint mit ihm geraucht hat“ sagt er, leicht genervt.
Die, die ihm nahe stehen, präsentieren Tío Candado als Arzt und Manager von Camarón, obwohl er weder das eine noch das andere war. „Ich habe Medizin studiert, habe aber den Beruf nie ausgeübt. Ich war Beamter.“ Er wird respektiert und auch kritisiert, aber alle wissen, dass er Camarón in den letzten Monaten seines Lebens am nächsten stand. Für alle Gitanos, die nicht das Glück hatten, Camarón zu kennen, erfüllt ihn diese Tatsache mit Gnade. Es ist ein Segen, aber auch eine Last, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten wird.
„Camarón kommt aus der Bahía de Cádiz und stirbt in den erdfarbenen Bergen von Badalona. Auch Enrique Morente hatte seinen letzten Auftritt in „El Molino“, in Barcelona. Barcelona ist die bleiche Braut der Flamencos.“ Das schreibt Javier Pérez Andujar in „Spaziergänge mit meiner Mutter“ und indem ich daran denke verstehe ich, dass ein Haus geschaffen wird, das seinen Namen trägt, in der Stadt in der er starb und nicht in der, in der er geboren wurde. So wird er jede Nacht wieder erweckt und versucht, das Unglück seines zu frühen Todes ungeschehen zu machen. Daran denke ich in diesem Raum und lasse die Blicke über die Rolläden wandern, die mit dem Tatoo bedeckt sind, das Camaróns linke Hand zierte: Der Halbmond und der sechszackige Stern. „Es ist uns eine Ehre, ihm so unsere Referenz zu erweisen“, sagt Simón Montero, Präsident des Verbandes der Gitanos von Katalonien. „Barcelona hat Camarón immer geliebt und er liebte diese Stadt. Darum ist es wichtig, hier einen Ort zu schaffen, an dem man an ihn denkt und ihn verehrt. Seine Familie hat viel dazu beigetragen und uns die meisten der Objekte überlassen, wir möchten aber mehrere Lokale auf der ganzen Welt eröffnen. In Japan, Frankreich, England und Katar. Seltsamerweise wird diese Kunst im Ausland mehr geschätzt als hier“ sagt Montero und wir fragen uns: Hat er etwa Recht?
Casa Camarón de la Isla
Carrer de Roger de Flor, 230
Barcelona
www.casacamaron.com
Der Text wurde erstmals in www.estadomental.com am 13.Juli 2015 veröffentlicht.
Übersetzung: Susanne Zellinger