Das erste Wochenende: Wendung zum Flamenco-Tanztheater
Überrascht hatten die Veranstalter (die Kulturfabrik und der Círculo Cultural Español Antonio Machado) schon mit dem Programm des ersten Wochenendes. Statt des in Esch beliebten traditionellen Flamencos setzten sie zweimal zeitgenössisches Flamenco-Tanztheater an. „J.R.T.“ sowie „Petisa Loca“ mit Sara Calero. Und beide Stücke waren absolut hervorragend.
„J.R.T.“ sind die Initialen von Julio Romero de Torres, 1874-1930, Maler aus Córdoba. Das Stück wurde 2016 auf dem Festival in Jerez präsentiert mit drei Tänzerinnen in den Hauptrollen: die Geschwister Úrsula und Tamara López und Leonor Leal. Im Theater Esch ersetzte Sara Calero, die ehemalige erste Tänzerin des Ballet Nacional de España, die schwangere Tamara López.
Unerwarteterweise repräsentierten nur wenige Szenen die Bilder des Julio Romero de Torres. Leonor Leal erklärte, dass das Stück die Alltagsperspektive des Malers in dieser Zeit reflektierte. In den Palos Soleá de Córdoba und Chuflas piconeras sah man aber in den Armbewegungen von Leonor die Referenz auf die Damen in den Bildern von Torres.
Die eingesprungene Tänzerin Sara Calero führte die Choreografien perfekt aus. Drei Tänzerinnen und die beiden Sängerinnen Elena Morales aus Córdoba und Gema Caballero liefen, marschierten und tanzten in einem Viereck. Dazu spielte das Duo „Proyecto LORCA“ (Schlagzeug: Antonio Moreno Sáens und Saxofon Tenor: Juan Jiménez). Darstellend die Semana Santa in Andalusien mit einer Saeta und einer Cuplé „Nuestra Señora Andalucía“. Dann eine Szene für den Stierkampf: „Paso doble“. Diese andalusische Tradition wurde mittels zeitgenössischem Tanz inszeniert.
Úrsula López bezauberte das Publikum in einer schwarzen Bata de cola mit Cantiñas und Alegrías de Córdoba. Und am Ende tanzten alle – Leonor Leal barfuß – endlich fröhlich im hellen Licht.
2016 in Jerez beeindruckte Tamara López mit ihrer Soleá. Hier in Esch tanzte die eingesprungene Sara Calero Taranto und Abandolaos mit Mantón und Kastagnetten, was ihrem Naturell als Vertreterin des Spanischen Tanzes entsprach. Die Musikbegleitung – Antonio Duro für die klassische Gitarre und Alfredo Lagos für die Flamencogitarre – müssen für ihren wesentlichen Beitrag zur hohen Qualität dieser Aufführung ausdrücklich erwähnt werden.
Thema: Befreiung der Frauen
Die Befreiung der Frauen thematisierte am zweiten Tag in der Kulturfabrik das Stück „Petisa Loca“ mit Sara Calero (Madrid 1983). Mit dabei die ebenfalls erstklassige Sängerin Gema Caballero.
Nach über vier Jahren Mitwirkung verließ die erste Tänzerin Sara Calero das Ballet Nacional de España 2010 um seitdem eigene Stücke zu kreieren und nicht mehr vorgegebene Choreografien zu tanzen. Die „Petisa Loca“ (kleine Verrückte) ist schon ihr viertes Werk. Die Geschichte ihres Großvaters, der nach Argentinien auswanderte, hat sie dabei inspiriert. Sara erzählte die Geschichten verschiedener Frauen, die als Immigrantinnen im Schatten leben mussten.
Gema Caballero aus Granada, mit ihrer unglaublich schönen Stimme, spielte ihren Part als Sängerin und Erzählerin. Für Gema ist der Text sehr wichtig, sagte sie. In „Petisa Loca“ beginnt sie mit dem Gedicht „Explico algunas cosas“ des Nobelpreisträgers Pablo Neruda aus Chile: „…Venid a ver la sangre por las calles!“ (Kommt, seht das Blut in den Straßen!).
Sara ist keine Bailaora aber eine große Bailarina und zeigte viele Stile des Spanischen Tanzes. Wunderschöne Schritte, Drehungen, Sprünge, fließende Bewegungen ohne Pause. Und viele Emotionen.
Die beiden großen Künstlerinnen begleitete der junge Gitarrist aus Ciudad Real, José Almarcha, der ein Schüler von Óscar Herrero war. Er studierte Gitarre weiter im Conservatorio Superior Música in Córdoba und gewann 2007 den Preis beim Wettbewerb für Flamencogitarre „Niño Ricardo“ in Murcia.
Er zeigte sein Talent beim Solo-Gitarrenkonzert als Vorprogramm am gleichen Abend mit Granaína, Petenera, Guajira und Bulería.
Viel Musik, viele Zapateados und viele ¡Olés!
Das zweite Wochenende begann mit „Gitano“ im klassischen Tablao-Stil der Kompanie Jairo Barrull. Zuerst betrat der grandiose Cantaor Juan José Amador langsam die Bühne und sang eine Martinete. Dann nacheinander die beiden Sänger David El Galli und Jesús Corbacho, ebenfalls Martinete. Hinzu kamen die Gasttänzerin Saray de los Reyes, die Frau von Corbacho, und danach der Kompanie-Chef Jairo mit Seguiriya und Cabales. Der Gitarrist war Ramón Amador, der Neffe von J.J. Amador. Alle standen schließlich zusammen auf der Bühne. Die Flamenco-Show konnte beginnen.
Saray mit Soleá por Bulería und Taranto. Jairo mit Alegría und Soleá. Die schlichten, aber tiefen Markierungschritte sind ein Markenzeichen von Jairo. An diesem Abend blieb er allerdings etwas blass. Im Gegensatz dazu löste die kraftvolle Saray beim Publikum Begeisterung und Freude aus. Leidenschaftliche, kräftige Zapateados und dazu elegante Handbewegungen. Passend zu den Palos trug sie typische Flamencokleider und -Accessoires, was dann auch optisch den Kontrast zur Vorwoche mit den überwiegend schlicht gehaltenen Outfits des Tanztheaters ausmachte.
Ehrengäste am nächsten Abend waren der Journalist José María Velázquez-Gaztelu und die Bailaora und Besitzerin des Tablao „El Corral de la Morería“ in Madrid, Blanca del Rey. Sie konnten sich vom guten Nachwuchs überzeugen in Gestalt der Gruppe Kiki Morente mit dem Stück „Albayzín“, welches auch der Titel seiner gleichnamigen CD ist. Kiki ist der Sohn des 2010 verstorbenen Enrique Morente, und der jüngste Bruder von Estrella und Soleá Morente, und der Neffe des Gitarristen José Carbonell „Montoyita“. Kiki ist nicht nur Sänger, sondern auch Gitarrist und Komponist. Er begann auf der Gitarre mit Musikrichtungen verschiedener Genres. Mit 22 Jahren konzentrierte er sich dann aber auf den Flamenco.
Als Cajonist war El Popo dabei, der aber auch singen und tanzen kann. Die Gasttänzerin aus Granada, die mit starker und sicheren Fußarbeit überzeugte und überraschte, war Irene Rueda Muñoz.
Am Ende sang Kiki emotional und unter die Haut gehend „Hallelujah“ von Leonard Cohen, das schon sein Vater Enrique auf seiner CD „Omega“ 1996 genial auf Flamencoart interpretierte. Ein ganz großer Moment und ein Highlight des Festivals.
Die größte Überraschung war der geniale Gitarrist David Carmona Fernández aus der Familie Habichuela. Er gewann schon den Preis „Bordón Minero“ in La Unión 2011, als er erst 22 war. Beim Vorprogramm, seinem Solo-Gitarrenkonzert, spielte er u.a. eine Taranta, Soleá, Tientos, und die Alegría, die er seinem Lehrer Manolo Sanlúcar widmete.
Die junge Gruppe aus Granada kreierte einen modernen Flamenco, der weder altmodisch noch poppig ist. Sehr gut gelungen.
Zum Abschluss des Festivals trat eine Diva aus Triana, Sevilla auf. Gitana pura. Esperanza Fernández. Große Präsenz und Ausstrahlung. Ihre Eltern sind Pepa Vargas und Curro Fernández, ihre Tante ist die Tänzerin Concha Vargas. Der eine Bruder ist Gitarrist (Paco) und der andere Tänzer (Joselito). Esperanza lernte zuerst Tanz bei Pepe Ríos, aber später wechselte sie auf Empfehlung der Sängerin Lole Montoya zum Gesang.
„De lo jondo y verdadero“ wurde schon oft, u.a. auf der Bienal in Sevilla aufgeführt. In Esch begleiteten sie der Gitarrist Francisco Vinuesa aus Málaga sowie mit Cajon, Palmas und Chorus die Künstler Jorge Pérez El Cubano, Dani Bonilla und ihr junger Sohn. Esperanza sang sogar eine Petenera, die die Gitanos in der Regel nicht singen wollen, da sie glauben, dass es ihnen Unglück bringt. Esperanza erklärte auf der Bühne, dass sie noch nie Unglück mit diesem Gesang hatte. Dabei tanzte die Gasttänzerin Ana Morales in einer weißen Bata. Makellose Technik, moderne Bewegungen mit stabilem Gleichgewicht, und die perfekte Interpretation begeisterten das Publikum. Die Stimme Esperanzas ist hoch, sie verwendet viele Melismen und sie trifft manche Töne, für die es auf dem Klavier keine Tasten gibt. Im ersten Teil sang sie Soleá und La Caña, Milonga und Guajira mit weißem Pericón und eine Alegría-Cantiña-Bulería de Cádiz.
Der zweite Teil begann mit Gitarre solo, dann Mariana und Tango, Seguiriya und Serrana. Hier tanzte Ana in Hosen, wobei ihre präzise Fußarbeit zur Geltung kam. Am Ende sang Esperanza eine Bulería von La Paquera de Jerez. Dieses ausverkaufte Gesangkonzert, das Finale eines erfolgreichen Festivals, endete mit Standing Ovations.
Text: Chie Otani-Martin
Fotos: Peter Martin