Ah Nîmes! Wie sehr hatte ich davon geträumt endlich wieder ein Festival erleben zu dürfen. Nicht nur auf einen Sprung vorbeizuschauen, sondern ganze fünf Tage, die mir die Augen, die Ohren und das Herz erfüllten.
Die Eröffnung traf mich gleich wie ein Schlag: Rocío Molina mit ihrem neuesten Stück „Caída del cielo“. Die tollkühne, unerschrockene, freche, kühne Rocío präsentierte hier ein machtvolles und reifes Werk, eine Rückbesinnung auf sich selbst, in der die Künstlerin sich entblößt, im übertragenen wie im konkreten Sinn, mit dem brennenden Bedürfnis ihren Weg zu bestätigen, ein öffentliches Glaubensbekenntnis abzulegen. In einer Hymne an ihre eigene Weiblichkeit stürzt sie jegliches Klischee vom Sockel, brutal aber mit Humor steht sie zu ihren Trieben, stellt sie sich ihren existentiellen Fragen und wirbelt das Publikum durcheinander auf ihrer Suche nach dem Kern der Condition Humaine. Blut, Schweiß und Tränen machen die Frage, ob das Flamenco ist überflüssig. Rocío hat den Rahmen der Klassifizierungen längst gesprengt. Sie ist die Expressivität an sich. Ist das nicht auch die Definition des Flamenco?
Der nächste Glücksmoment nahte schon in der Person von Rafael Rodríguez „El Cabeza“. Der unentbehrliche Rafael, bescheiden und immer im Dienst der Größten hatte sich diese Hommage wohl verdient. Auf dem Menuplan standen seine Solos, allen voran die wunderbare Zambra, die er mit seiner Tochter an der Perkussion teilte und das Zusammenspiel mit einigen der Künstler, die sich mit ihm in jedes Abenteuer stürzten. Von der wirbelnden Virtuosin Rocío Molina mit ihrer damals klassischen Guajira aus Oro Viejo zur majestätischen Milagros Menjibar, der Meisterin der Bata de Cola, über die Eleganz eines Javier Barón spielte sich El Cabeza zur Höchstform auf und das Publikum war wie im Himmel. Seine Picados in den tiefen Tönen, seine trillernden Wellen und seine schelmischen Harmonien erhoben den Tanz und umschmeichelten die Stimmen von José Anillo, in Höchstform, und David Palomar, der jubilierte wie ein Kind am Weihnachtsmorgen. Aber das schönste Geschenk war, diese Verbundenheit zwischen ihnen zu spüren, die weit über den Bühnenrand hinausstrahlte.
Der dritte Pfeil ins Herz war „Reversible“ von Manuel Liñán. Ein sensibles und intelligentes Stück, das es sich, wie der Name schon sagt, zur Aufgabe machte, die oft zurückgedrängten Teile des Ying im Yang ans Licht zu bringen und umgekehrt. Begleitet von La Piñona und José Maldonado als männlicher Kontrapunkt kämpft er sich durch seine Kindheitserinnerungen wie ein verirrter Spatz, der gegen die gläsernen Diktate der Familie und der Gesellschaft prallt, gegen den vorgezeichneten Weg und die Fesseln, die ihn ersticken. Aus dieser Welt in Schwarz-Weiß führt ihn das Blut der Leidenschaft zur Erlösung. Es ist ein wilder, ein verzweifelter Tanz mit der Bata de Cola, mit der er untrennbar verbunden ist und den nur der majestätische, ruhige Torombo zu besänftigen vermag.
Die Filmprojektionen sind auch Teil des Festivals, wie das wunderbare Portrait von Matilde Coral „Acariciando al Aire“, genauso wie die Fotoausstellungen und Vorträge. Besonders der letzte von Pedro Peña und José María Velázquez Gaztelu wird in Erinnerung bleiben. Pedro Peña, der Bruder von Lebrijano, dem auch dieses Festival gewidmet war, stellte sein Buch „Los gitanos flamencos“ vor, begleitet von den Kommentaren Gaztelus, dem wir die Kultserie „Rito y geografía del Cante“ verdanken. Illustriert durch alte Videoaufnahmen aus der Serie erinnerten sie sich an die Persönlichkeiten der Dynastien Peña und Perrate aber das schönste Geschenk kam zum Schluss: Pedro und sein Sohn Pedro María interpretierten Soleá und Seguiriya vor einem bewegten Publikum. Ein historischer Moment.
Durch die kurzfristige Absage von María Terremoto kamen wir in den Genuss des Cante von David Carpio, elegant und gitano, begleitet von Antonio Moya an der Gitarre.
Den Schlusspunkt dieser Edition setzte Vicente Amigo. Hochgelobt, verehrt wie eine Ikone zeigte er die ganze Bandbreite seines Könnens und bestätigte sein Genie. Machtvoll und sensibel schafft er ein Universum aus ganz besonderem Licht. Rafael de Utrera ist sein congenialer Partner im Cante aber es ist auch schön zu sehen wie er „El Choro“ freie Bahn lässt. Lächelnd beobachtet er ihn, wenn er nach anfänglicher Zurückhaltung einen Gang zulegt und das Publikum schon nach einer Minute in die Tasche steckt. Aber Vicente ist ein guter Showman und fängt das Publikum mit einem subtilen Solo wieder ein und vor dem letzten Jubel herrscht im Saal Totenstille. Beeindruckend.
Großartiger Schlusspunkt eines wunderbaren Festivals, in dem es dem Team von Nîmes wieder gelungen ist sich ganz in den Dienst der Kunst zu stellen. Durch das hervorragende Programm aber auch durch die Wärme und Zuneigung mit der es die Künstler und alle Teilnehmenden umgibt.
Text: Dolores Triviño
Fotos: Jean- Luis Duzert