Wenn du willst, dass ich weine, weine du zuerst
Dieser Satz ist jetzt ausnahmsweise nicht von mir, sondern aus einem Interview mit Andrés Marín aus dem Jahre Schnee. Er fiel mir ein noch während ich mir das Stück „El Salto“ ansah, weil mir wieder bewusst wurde, wie schwer es ist, auf der Bühne Gefühle zu zeigen und sie verständlich zu machen, egal, welche Idee dahinter steckt, so wie in diesem Fall, wenn José Valencia für Jesús Carmona weint. Laut. Verstärkt. Pathetisch. Wie auch nicht.
Warum es mich so stört? Weil es eine großartige Arbeit so banal macht. Warum muss ich das Offensichtliche noch erklären? Ketten als Symbol für das Eingesperrtsein in eine Welt, eine Form der Erziehung, ein Konzept? Seh ich zum ersten mal.
Was mich aber am meisten irritiert hat und mich vielleicht manche Dinge in einem falschen Licht sehen ließ, war die Lautstärke, die sich auf weite Strecken in einem Bereich bewegte, der mich dazu brachte, mir die Ohren zuzuhalten. Das falsche Licht deswegen, weil viele meiner Kolleginnen so restlos begeistert waren, dass ich zu zweifeln begann.
Im Stakkato der aufeinanderfolgenden Szenen gab es aber auch keine Ruhepause, weder akustisch noch tänzerisch, ein Marathon für die Sinne, denn ich war hellwach. Gespannt, neugierig, voll der Vorfreude auf zwei Künstler, die ich zutiefst bewundere und liebe. Und dann wurde ich fast erschlagen.
Jesús Carmona ist mehr als ein Naturtalent oder ein Vorzeigetänzer. Er ist so gut, dass ich nicht einmal versuchen will ihn zu beschreiben. Er ist Premio Nacional de Danza des letzten Jahres. Schauen Sie ihn sich an. „ Dieses Stück hat eine schwere Last von mir genommen und mir geholfen, meine Schwächen in Schönheit zu verwandeln.“, sagt er in einem Interview. Welche Schwächen? frage ich. „Es tan perfecto que da asco“, sagte eine meiner Kolleginnen – der ist so perfekt, dass mir fast schlecht wird’, voller Bewunderung natürlich, und das stimmt.
Er ist einer der besten Bailarines oder Danzaores, denn schon hier entzieht er sich jeder Katalogisierung. Klassisch, modern, flamenco – spielt keine Rolle, er macht alles perfekt. Weibliche Bewegungen? Keine Ahnung, er ist ein sehr männlicher Tänzer, war er immer schon und ich sehe hier keine tänzerische Barrieren, die er durchbrochen hätte. Dass er jeden Tag besser wird? Soweit das noch möglich ist, würde ich sagen.
In dem einzigen Solo, das er uns schenkte, der Alegría, war die Freude groß und das Vergnügen kurz, denn schon näherte sich wieder die Gruppe der sechs männlichen Tänzer – alle hervorragend – und weiter ging’s, wie im Ohne Pause Kino, das es gab, als ich noch jung war. Das war ein Kino, das den ganzen Tag einen Film zeigte, in Endlosschleife, man konnte also den Film von der Mitte an sehen bis zum Ende und dann erst den Anfang.
José Valencia, dieser unglaubliche Cantaor, der in der Wiener Oper die Menschen von den Sitzen reißen könnte, spielte eine Doppelrolle, die er mühelos erledigt, weil er es kann. Abgesehen von seiner mächtigen Stimme, seinem um einige Oktaven gehenden Umfang und seiner Technik ist er einer der wenigen Cantaores, die sich auf der Bühne bewegen, als wären sie dort geboren. Juan Requena hatte wenig Platz für sein Spiel inmitten des bewegten Bühnengeschehens, aber Sara Arguijo sagt, es war poetisch und dann wird es schon stimmen.
„El Salto“ ist auf jeden Fall ein mutiger Schritt nach vorne, aber ich glaube, die wirkliche Befreiung für dieses große Talent kommt erst, wenn sich die inneren Wellen etwas geglättet haben.
„El Salto“
Jesús Carmona
21.05.2021, Teatro Villamarta
Festival de Jerez
Fotos: Javier Fergo
Text: Susanne Zellinger