Der Morgen und der Abendstern
Wenn man über etwas nachdenkt, das einem gefallen hat, kommt man manchmal auf seltsame Gedanken. Nach dem gestrigen Tag war ich verwirrt. Je mehr Zeit verging umso mehr vermischten sich die Gedanken und die Gefühle, Eindrücke stellten sich als falsch heraus und Worte drehten sich um. Bilder verschwammen und wurden deutlich, noch als ich zu Bett ging war mir die Verteilung ganz klar: Mercedes Ruiz war der Morgenstern, der strahlende, der den Tag ankündigt bevor die Sonne aufgeht.
Lucía La Piñona war der Abendstern.
Verführt von dem Dunkel, das sie umgab, vergaß ich, dass der Abendstern nicht verschwindet, wenn der Mond aufgeht, ganz im Gegenteil, er bleibt strahlend hell am Nachthimmel neben dem Mond, also alles umgekehrt. Lucía der Morgenstern, der verschwindet in der Unendlichkeit, Mercedes der Abendstern, dessen Licht lange leuchtet, unangefochten vom Strahlen des Mondes.
Aber da gibt es noch etwas, das ich außer Acht gelassen hatte: Der Morgen und der Abendstern sind der gleiche Planet, die Venus, der Planet der Liebe, der sich regelmäßig an der Sonne vorbei schleicht.
Also sind diese beiden wunderbaren Tänzerinnen im Grunde auch eine Person, die, verbunden durch die Liebe, das Leben betrachten.
Die Ansätze sind natürlich ganz verschieden: Lucía Álvarez stützt sich auf die Texte von Juan Manuel Flores, dem vergessenen Dichter des Lichts, der dem Duo Lole y Manuel die Texte für einige ihrer schönsten Lieder lieferte und die in diesem Fall Pepe de Pura an die verschiedenen Palos adaptierte: „¿ Quién se ha llevado la estrella que temblaba en mi ventana?“ Die Gedichte sind voll von Metaphern und so ist auch das Stück. Lucía Álvarez ist eine Frau, die einen Weg sucht, es ist keine einfacher Weg, denn das Glück ist nicht leicht zu finden und oft wartet hinter einem Moment der Freiheit schon das nächste Gefängnis. Gebettet in eine Traumlandschaft von Blumen spürt sie Hoffnung und Verlust, Wahrheit und Illusion, Kälte und die zärtliche Umarmung der Mutter.
Auf dieser Welt passiert immer alles gleichzeitig. Unter der musikalischen Leitung von Alfredo Lagos tanzt sie sich durch ihr Leben. „Abril“ ist ein wunderbares Werk, Pedro G. Romero hatte seine Hand im Spiel und er weiß, was er tut. Das kann man übrigens vom Tontechniker nicht behaupten, denn ich war noch eine Stunde später taub. Lucía La Piñona muss nächstes Jahr auf die große Bühne des Teatro Villamarta, sie ist bereit.
Ganz anders sieht die Situation bei Mercedes Ruiz aus: nach der Geburt ihres Sohnes steht sie wieder auf der großen Bühne, strahlend und selbstsicher mit einem Santiago Lara an ihrer Seite, der großartige Melodien für sie zauberte, wie die Abandolaos auf der Laute oder die Seguiriya bei der Mercedes mit ihren Kastagnetten brilliert.
„La segunda piel“ hat zwar einige Längen aber es ist voll von Licht und Schönheit. Es hat ein anders musikalisches Konzept und auch hier war der Gitarrist dafür verantwortlich. Heute Abend geht es weiter mit Macarena Ramírez und Carmen Cortés. Zwei Generationen, zwei Welten.
„Abril“
Lucía La Piñona
19.02.2022 Museos de La Atalaya
„Segunda Piel“
Mercedes Ruiz
19.02.2022 Teatro Villamarta
Fotos: Javier Fergo, Tamara Pastora
Text: Susanne Zellinger