Das Flamencofestival im tanzhaus nrw ist ein Highlight des Jahres. Weil das tanzhaus nrw einzigartig ist – da gibt es diese Mischung aus Profis und Amateuren, Hiphop, Flamenco und Tapdance unter einem Dach und wenn man Glück hat gibt es auch noch eine Battle oder einen Salsa Abend, wo die Zuschauermengen fast das Foyer sprengen. Alles ist in einem Haus und die positive Energie überträgt sich, kaum, dass man eingetreten ist. Im Restaurant sitzt man an einem Tisch mit Leonor Leal oder Javier Latorre, auch Festivalleiterin Dorothee Schackow ist meistens im Haus unterwegs und hat wie immer alles im Griff. Wenn man Lust hat, kann man auch noch einen Blick durch die Fenster der Studios werfen, in denen die Workshops stattfinden. Es gibt Einführungen und Publikumsgespräche und am Wochenende Verkaufsstände, an denen man sich das 5. Paar Schuhe kaufen kann.
Der einzige Nachteil: Es findet immer in der Osterwoche statt, das heißt kein Osterfrühstück mit der Familie, keine Hasenjagd und keine Semana Santa. Man kann nicht alles haben.
Das erste Wochenende war ganz dem experimentellen Flamencotanz gewidmet, mit einer Weltpremiere, dem Stück „Frágil“ von Leonor Leal, das in zwei Residenzen am tanzhaus nrw erarbeitet wurde. Diese Residenzen, die das tanzhaus nrw den Künstlern bietet sind ein Luxus, der von den Künstlern sehr geschätzt wird. Die prekäre Finanzsituation in Spanien erlaubt es ihnen sonst kaum, ein Stück in Ruhe und ohne Druck zu erarbeiten. Abseits von den Proben wird hier gemeinsam gegessen und gelacht und die Inspiration kommt ja nicht nur in den angesetzten Probezeiten sondern auch davor und danach, in der ganz normalen Alltagssituation.
Eröffnet wurde das diesjährige Festival mit der Produktion „220V“ des Künstlerduos Estévez/Paños. Sie waren auch schon letztes Jahr zu Gast mit der großartigen Produktion „Romances“.
Warum das Stück „220V“ heißt erschließt sich nicht ganz, denn Hochspannung gab es keine, wohl aber eine Spannungsbogen und eine stimmige Inszenierung im Halbdunkel… . Die hervorragenden Tänzer Rafael Estévez, Valeriano Paños und Jordi Vilaseca, kommen jeder aus einer anderen Ecke, Flamenco, klassischer spanischer Tanz und Contemporary. Sandra Carrasco liefert die Stimme und Daniel Múñoz von Artomático sitzt am Elektronikpult.
An den Computer auf der Bühne hat man sich inzwischen gewöhnt und auch daran, dass man sich am nächsten Tag an nichts mehr erinnert, Geräusche bleiben eben nicht so haften. Dass man sich dessen sehr wohl bewusst ist, illustrierte man mit einer gewissen Selbstironie, als der Geräuschteppich plötzlich abbricht und die Tänzer mit deutlicher Erleichterung reagieren.
Sandra Carrasco singt wie meistens a capella, sie ist schlicht und virtuos, präsent und intensiv. Sie setzt Rafaels Wünsche perfekt um, er ist eine wahre Enzyklopädie, was den Flamencogesang betrifft und die von ihm ausgewählten Texte sind exklusiv, aber schwer zu erkennen. Am Ende begann unter den Aficionados wieder das große Rätselraten. War das eine Romance? Und was war das danach? Ich hab nur die Saeta in der Mitte erkannt, aber sonst? Einzig mögliche Antwort: Frag Rafa. Am Ende gab es doch noch einen kleinen Höhepunkt: Der zu dritt getanzte Fandango versöhnte all jene, denen zu wenig Action auf der Bühne war. Bei vielen anderen war das aber nicht nötig. Sie haben es genossen.
„Frágil“ heißt die neue Produktion der Jerezaner Tänzerin Leonor Leal und des Komponisten Michio Woirgardt. Im letzten Jahr als kleines Stückchen vorgefühlt, erstrahlte es in diesem Jahr als abendfüllendes Programm in ganzer Pracht. Das Bühnenbild und die Raumprojektionen von Ana Lessing Menjibar waren meisterhaft und mit dem nötigen Gefühl in Szene gesetzt und mit Gefühl meine ich nicht kitschige oder zu plastische Bilder, die bei Tanzproduktionen oft Verwirrung stiften oder stören, ganz im Gegenteil: Sie gaben der Tänzerin den Raum, den sie brauchte um ihre Geschichte zu erzählen.
Maura Morales legte bei den Modern Tanzszenen Hand an, subtil aber bestimmt hilft sie Leonor, ihre Angst vor dem Unbekannten zu überwinden. Und darum geht es auch in dem Stück, um die Fragilität der Tänzerin, ihre Zerbrechlichkeit, ihre Unsicherheit, wenn sie sich in neue Gefilde vorwagt, aber auch um das beharrliche Üben und an die Grenze, die sie dabei stößt, wenn sie vom Körper etwas verlangt, das er noch nicht geben kann. Leonor Leal überrascht wieder einmal mit ihrer unerwarteten Kraft, so als hätte sie die Fäuste geballt, gibt sie nicht nach und gewinnt am Schluss, wie der frenetische Beifall des Publikums beweist. Michio zeigt einmal mehr, dass er ein feinsinniger Komponist ist und ein bemerkenswerter Gitarrist. Bei ihm gibt die elektronische Musik Sinn, sie treibt Leonor vorwärts und geht in jedem Moment auf sie ein, seine Präsenz auf der Bühne macht ihn zum Widerpart und zum Komplizen des Spiels.
Anna Natt präsentierte sich am Sonntag Abend mit ihrem Stück „Uro“, bei dem im Vorfeld schon gestöhnt wurde, der Trailer kündigte eine Geduldsprobe für Aficionados an.
Groß war aber dann die Überraschung über ein kleines, durchdachtes Stück, das Stoff für interessante Diskussionen gab. Ein gewagtes Stück zwar, in dem es viel zitterndes Fleisch zu sehen gab, sowohl auf der Bühne als auch auf den riesengroßen Projektionen, aber wie gesagt: wenn das Sinn ergibt und gut gemacht ist, gibt es wenig zu meckern. Im nachfolgenden Publikumsgespräch konnte Anna Natt dann auch die Zweifler für sich gewinnen, durch ihre Offenheit, ihre Intelligenz und die Bereitschaft, auf jede der gestellten Fragen plausible Antworten zu geben.
Das zweite Wochenende hätte nicht besser beginnen können als mit dem Kammerspiel „Afectos“von Rocío Molina. Darüber habe ich schon so oft geschrieben und gesprochen, dass ich nicht mehr viel zu sagen habe. Drei großartige Künstler lassen sich auf einen Trialog ein, den Rest zitiere ich aus einem früheren Artikel:
Ein großer Bühnenraum mit spärlicher Beleuchtung, ein Kleiderständer, ein Sofa und eine Stehlampe. Ein Musiker, eine Sängerin und eine Tänzerin. Nicht mehr. Eine Basssaite erklingt, wie ein Gong und aus der Dunkelheit löst sich ein Körper. Barfuss und im Alltagskleid knipst Rocío Molina das Licht an, sie nimmt die Gitarre auf den Schoß, sie wiegt sie in ihren Armen, sie legt sie auf den Nacken, sie lässt sie in den Schoß gleiten, sie streichelt sie und bittet sie um Entschuldigung, denn die Hauptrolle spielt diesmal der Kontrabass von Pablo Martín. Der Allrounder mit klassischem Background ist inzwischen fixer Bestandteil vieler Flamencoformationen und mit seiner Band Ultra High Flamenco in ganz Europa unterwegs. In diesem Kammerspiel sieht er zwei Mädchen beim Spielen zu, manchmal ermuntert er, dann besänftigt er das Treiben. Rosario La Tremendita kommt aus Triana, schon ihr Vater war ein bekannter Flamencosänger, sie begleitet Rocío Molina schon seit vielen Jahren mit ihrer rauen, vibrierenden Stimme. Ihre gegenseitige Zuneigung ist zu spüren in jeder Minute und manchmal wirken sie wie ein einziges Wesen, so in ihrem faszinierenden Perkussionssolo, zwei Füße, vier Hände, die sich gegenseitig vorantreiben im höllisch schnellen Rhythmus der Bulería.
Juan Manuel Fernández Montoya ist etwas ganz Besonderes. Auf der Bühne wie auch im Leben. Aus seiner Masterclass schwebten die meisten wie auf Wolken.
Sein Auftritt war wie immer ein Erlebnis. Wenn er die Bühne betritt, füllt sie sich mit Energie und er ist großzügig, lässt sich auf den Raum ein – übrigens ein absoluter Luxus ihn im Saal des Tanzhauses aus nächster Nähe zu sehen – und füllt ihn einen ganzen Abend lang mit seiner überragenden Technik, seinen choreografischen Ideen und seinem Charisma. Natürlich beeindruckt seine Kraft in den Zapateados, seine Drehungen à la Michael Jackson und sein Tempo, aber es gibt auch sehr zarte, einfühlsame Momente der Langsamkeit und der Stille. Was soll ich sagen, auch ich bin verzaubert.
Zum Abschluss des Festivals gab es noch eine Werkschau des Kurses von Javier Latorre und seiner Choreografie zum „Pequeño vals vienés“ von Enrique Morente. Eine sehr schöne Arbeit und wunderbar interpretiert von den Tänzerinnen.
Die Amerikanerin Cristina Hall konnte mit ihrem neuen Stück, eine Uraufführung und Koproduktion des Tanzhauses nicht alle Erwartungen erfüllen, unter anderem auch durch den Titel „Translúcido“, der nicht in durchlässige, von Licht durchflutete Schleier führte sondern in die düsteren Abgründe des menschlichen Seins. Da war zuviel gedacht und gewollt, zuviel Symbolik und Seitenverweise, die nicht zu verstehen waren. Sowohl Cristina Hall als auch Carlos Carbonell und Ana Pérez zeigten in den kurzen Momenten, in denen sie dazu Gelegenheit hatten, dass sie hervorragende Tänzer sind, aber das wussten wir auch schon vorher. Es gab einige schöne Szenen, aber das war nicht genug. Warum der hervorragende Musiker und Sänger Cristian de Moret so viele Äpfel schälen musste erschloss sich auch nicht ganz. Aber gut, vielleicht sind wir Zuschauer für diese Art von Darbietung einfach noch nicht bereit.
Vergnügen machten auch die vielen Publikumsgespräche, an denen die Künstler offen und bereitwillig teilnahmen und die von den Zuschauern mit Begeisterung angenommen werden, was ihr zahlreiches Erscheinen und Verweilen bewies.