Drei CD- Produktionen aus dem Jahr 2019, also sozusagen erst kürzlich erschienen, stehen hier willkürlich nebeneinander, nicht als Vergleich, aber von Interesse ist es doch, sich anzusehen, auf welch unterschiedliche Weise sie sich innerhalb des weitläufigen Kunststils Flamenco zu positionieren versuchen. Das ist ja nicht leicht in dieser sich schnell wandelnden musikalisch/tänzerischen Landschaft. Da erscheinen sogleich die altbekannten Bilder des Spannungsfeldes zwischen „puro“ und „experimental“, „tradición“ und „vanguardia“. Und wenn heute „puro“, dann doch nicht „altfaderisch“ puro und wenn „experimental“, dann doch wie ein konzentrisch sich fortbewegender Wellenkreis, mit dem Balanceakt, sich nicht so weit von der Quelle zu entfernen, dass diese nicht mehr spürbar ist. Aber dieses Spannungsfeld, welches für gewöhnlich viel zu kurz gegriffen diskutiert wird, soll hier nicht weiter Gegenstand der Betrachtungen sein.

David Lagos: Hodierno

Hodierno, lateinischer Begriff für „heute“, ist die dritte CD des Jerezaner Sängers David Lagos, gleichnamig mit seinem Quartett, mit dem er den Flamencogesang in die heutige Zeit, soll heißen, auch in zeitgenössische Formen musikalischer Arrangements zu transferieren versucht. Dabei versehen die vier Musiker auch alte, traditionelle Lyrik mit ungewohnter und neuer musikalischer Kleidung, so zum Beispiel in der ersten Nummer kastilischen Ursprungs, „Romance de la monja“. In der darauffolgenden Malagueña wird das klassische Malagueña-Thema von elektronischer Musik getragen, die sich gemeinsam mit dem Schlagzeug in einem immer stärker werdenden Wirbelsturm um die ebenfalls an Intensität zunehmende Stimme von David Lagos dreht. Sie trägt den Namen des Albums. Ähnlich ist auch die dynamische Gestaltung der nun folgenden Cantiña „Me lo dijeron“. Verantwortlich für Schlagzeug und Elektronik zeichnet sich Daniel Muñoz „Artomático“, das Saxophon von Juan Jiménez spielt immer wieder eine zum Gesang bisweilen völlig konträre melodische Linie atonaler Prägung, ähnlich einem Kontrapunkt. Alfredo Lagos Gitarre erscheint oft nur klein heimlich, fragmentarisch und bewusst spartanisch eingesetzt, sie räumt dann sozusagen das Feld zugunsten ausgesuchter, anderer Klänge. In der Caña „El que no tiene dinero“ ist sie aber dann doch präsent, als traditionelles Begleitinstrument in bester Ausprägung, ebenfalls in der Soleá „Si pudiera“, wo das Saxophon von Jiménez, wieder „freejazzig“ wirkend, neben dem Gesang seine Parallelwelt entfaltet.

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Für mich versprüht das Album trotz der für viele vielleicht eigentümlich anmutenden musikalischen Experimente eine hohe Authentizität, weil das Instrumentarium bewusst und durchdacht ausgewählt und eingesetzt wirkt und im dynamischen Wechselspiel mit dem Gesang auch sein Eigenleben entfalten kann. Die Musik weist Elemente zeitgenössischer Kompositionen aus dem Bereich der „Ernsten Musik“ auf, es wird nicht versucht, gefälligen Sound zu produzieren, um ein möglichst breites Publikum anzusprechen. Im Gegenteil, Flamenco ist hier Musik, die anstrengt, was er ja auch traditionellerweise ist. Authentizität, diesen Begriff habe ich nach längerer Überlegung hier für mich als Kriterium eingeführt und freute mich im Nachhinein, als ich auf eben dieses Wort in einem Interview mit dem Flamencotänzer José Manuel Álvarez stieß. Der Ausdruck fügt den oben angeführten Diskussionen um den Flamenco doch eine etwas andere Dimension hinzu, auch eine individuelle und persönliche. Und so spricht David Lagos auch von einem sehr persönlichen Album, einer Idee, die ihm schon lange vorschwebte.

Die Aufnahmen sind, und das ist auch wichtig, in einen schönen, runden, musikalischen Bogen eingespannt, die Stimme von David Lagos überzeugt uneingeschränkt. Für mich ein Hörgenuss, auf den ich immer wieder Lust bekomme, ein Album aber, das ich mir nur ab und an und dann einigermaßen konzentriert anhören kann, was vielleicht auch der Intention dieser hörenswerten Neuerscheinung entspricht (davidlagos.com).

 La Yiya: A Fuerza de Corazón

Ana María Ramírez Limones, geboren 1983 in La Puebla de Cazalla, präsentiert mit ihrem Künstlernamen „La Yiya“ die CD „A Fuerza de Corazón“.Wie auf dem CD-Cover zu lesen, betrachtet sie ihre CD als Oase, um das Verlangen der Flamenco-Aficionados nach „dem Flamenco zwischen so viel Lärm und Experimenten“ zu stillen, sie verschreibt sich sozusagen in klassischen Unterscheidungskriterien dem sogenannten Flamenco Puro, was immer letztlich das auch ist.

© fidel meneses

Obwohl mir der Flamencogesang seit Jahren vertraut ist, war beim ersten Hineinhören ihre Stimme für mich in hohen Lagen ein bisschen schrill, aber nach mehrmaligem Hören kann ich sagen, dass mir die Aufnahmen sehr gut gefallen, mein Lieblingsstück ist die Malagueña, sehr gefühlvoll und schlicht begleitet vom Gitarristen Antonio García aus Ejica, der sogenannten Bratpfanne Andalusiens. Mit Manolo Franco ist ein schon seit Jahrzehnten arrivierter zweiter Gitarrist mit von der Partie. Ganz eindeutig befinden sich die Lieblingsstile von La Yiya im Bereich der rhythmisch freien bzw. getragenen Gesänge, in welchen sie ihre melismatischen Gestaltungsfähigkeiten voll entfalten kann. Ihr Interesse gilt auch weniger verbreiteten Palos wie Romance (hier al Compás de la Soleá por Bulería) oder Mariana aus der Familie der „Tangos flamencos“. Tarantos in Fandangos mündend, Soleares und Seguiriyas, Tientos, Saeta, Petenera und Tangos runden diese, dem Cante Jondo verpflichtete CD ab, die ich mir sicher immer wieder anhören werde und die, meiner Meinung nach, keiner wie immer gearteten „Purismo-Philosophie“ innerhalb der facettenreichen Flamencomusik bedarf (La Droguería Music).

 Javier Patino: Deja que te lleve

Der 1974 in Jerez de la Frontera geborene Javier Patino stellt mit „Deja qu te lleve“ sein drittes Album vor, insbesondere seine erste, momentan offensichtlich nicht erhältliche CD „Media Vida“ habe ich in sehr guter Erinnerung. Wie der Titel schon sagt, will er seine Hörer*innen sanft in neue musikalische Welten tragen. Er ist von seiner Stilistik her doch einigermaßen der lyrischen, bisweilen an Jazz erinnernden Flamencogitarre zuzuordnen, experimentiert in seinen Stilinterpretationen gerne mit verschiedenen Tonarten und unkonventionellen harmonischen Abläufen, wie in Andalucía, einer Seguirilla. Seine lyrischen Anklänge werden durch ein Streichertrio bestehend aus Violine, Bratsche und Cello unterstützt, gespielt von Silvia Romero Ramos, Ana Valdés Carsí und Javier Morillas Buendía.

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Interessant ist die Gestaltung der Petenera, die, in langen, rhythmisch freien Gitarrenlinien sich entwickelnd, erstmals mit dem Einsatz der Streicher ihre Gestalt offenbart und mit dem typischen Gitarrenthema ihr Ende findet. Hervorzuheben sind auch die gesanglichen Leistungen von Fernando de la Morena und Salmonete in der sich ebenfalls in zarten Gitarrenfloskeln aufrollenden Bulería „Jerez“, genauso Stimme und melodische Gestaltung des Tanguillo, gesungen von Gema Caballero. Schöne Themen finden sich in der, dem Albumtitel gleichnamigen Bulería. Sehr hörenswerte, dem „Flamenco Nuevo“ zuzuordnende CD. Und wenn sie für mich auch bisweilen zu zart und lyrisch ist, empfehle ich sie wärmstens sowohl „Aficionados“ als auch weniger in dieser Musik beheimateten Hörer*innen (Rock-CD Records).

TEXT: BRUNO CHMEL// FOTO DAVID LAGOS: DANIEL PATINGA