„CALMA“, also „Ruhe“, ist der Titel der 2016 erschienenen ersten Solo-CD des 1985 geborenen Flamenco-Gitarristen Jesús Guerrero, aus Cádiz stammend, besser besagt, aus San Fernando, wo auch der legendäre Flamencosänger Camarón de la Isla seine Wurzeln hat.
„Gerne hätte ich Camarón de la Isla begleitet“, antwortet Guerrero, als er in einem Interview über musikalische Wünsche und Sehnsüchte spricht und widmet ihm die dem CD-Titel gleichnamige Granaína seines Albums.
Calma, das ist für den auch als Begleitgitarrist ausgezeichneten Jesús Guerrero ein persönliches Innehalten nach vorangegangenen intensiven musikalischen Jahren, ein Innehalten, das es ihm erst ermöglicht, seine musikalischen Ideen darzulegen, sein ganz persönliches musikalisches Statement zu setzen. Dieses Statement führt zu rhythmisch sehr eloquent gestalteten Stilen wie die Eingangsnummer La Carraca, eine Alegría, Calle de Carmen, eine Bulería, der Nina Pastori ihre Stimme leiht und zu einer Rumba namens Café Noir, die ihren Namen Erlebnissen in einem französischen Kaffeehaus verdankt.
Hauptsächlich ist die CD sehr lyrisch gestaltet, neben der schon erwähnten Granaína findet sich eine sehr schöne Rondeña auf dem Album, die der verstorbenen Mutter gewidmet ist, die Alegría, fast ein musikalisches Wahrzeichen von Cádiz, weist hingegen nostalgisch auf den die Jugend begleitenden, gemeinsamen Fischfang mit dem Vater hin, eben in der Bahía von Cádiz. Fast jede Nummer der Neuerscheinung hat somit einen außermusikalischen Bezug, ist sozusagen ein Lebensetappen-Resümee, auch wenn die ebenfalls rhythmisch frei gestaltete Schlussnummer Alba sich eher abstrakt auf Liebe, Anziehung bezieht.
Natürlich ist die musikalische Spurensuche, und das liegt wohl nahe, eine vor allem harmonische, in jedenfalls ansprechender Form ist sie ein Bewegen innerhalb jazzharmonischer Fortschreitungen, versehen mit dem den Stilen entsprechenden „Flamenco-Timbre“, was aber nie aufgesetzt oder unnatürlich wirkt. So überwiegt nach dem ersten Durchhören auch der Eindruck einer von rhythmisch freien Flamencostilen und freien Fantasien geprägten Sammlung von neun Kompositionen. Ergänzt wird das Album von einem Ausflug in die lateinamerikanische Musik, eine weitere musikalische Leidenschaft von Jesús Guerrero und oft der unmittelbarste Weg, der von der Flamencomusik zur Jazzmusik führt. Zu hören ist die Stimme des kubanischen Sängers Alejo Martínez.
El Principio de Todas las Cosas geht nahtlos in die mit hervorragendem „Feeling“ von Alba Carmona gesungene Nummer Anne Frank über, im Rhythmus des Fandango. Ein sehr schön gestaltetes Stück, der Text ist von Jesús Guerrero selbst, inspiriert wurde er zu dieser Komposition von einem Besuch im Anne Frank Museum. Ich persönlich würde mich ohne diesen Bezug beim Anhören dieser schönen Komposition wohler fühlen, nicht weil ich diese Zeit zu verdrängen versuche, sondern, weil mir die hier verwendeten musikalischen Stilmittel doch als nicht wirklich geeignet erscheinen, sich den grauenhaften Ereignissen des Holocaust adäquat anzunähern.
Puristen der Flamencogitarre werden das Album als ein typisches Produkt jener jungen, technisch und musikalisch versierten Flamencogitarristen-Szene kritisieren, die in einer Mischung aus Flamenco und Jazz ihre Vielseitigkeit beweisen wollen und denen letztlich die Wurzeln dieser Musik verloren geht. Aber die spanische Gesellschaft hat sich verändert, Flamencokünstler/innen haben heute selbstverständlich, wie im Fall von Jesús Guerrero, Zugang zu einer fundierten musikalischen Ausbildung und begeben sich gerade aufgrund dieses Backgrounds dann erneut und ganz bewusst, aber eben nicht ausschließlich, auf musikalische Spurensuche nach den Wurzeln dieser Musik. Dies beweisen nicht nur die zahlreichen Aktivitäten von Jesús Guerrero als Begleitgitarrist verschiedenster Sängerinnen und Sänger wie Miguel Poveda oder eben Nina Pastori, in Aquel Silverio ist eben diese Suche nach schon fast vergessenen Formen des Flamenco, bezugnehmend auf diese berühmte Sängerlegende, zentrales Anliegen.
Ein technisch hervorragendes und dynamisch sehr feinsinnig gestaltetes Album, für mich bisweilen etwas zu sehr „calm“, aber das ist nun wirklich ein sehr persönliches Empfinden.