Carmen Muñoz ist Teil einer heterodoxen Gemeinschaft von Künstlerinnen und Künstlern, die auf der Grundlage ihrer Ausbildung und mit den Werkzeugen des Flamencos selbst ihre Codes sowohl auf theoretischer als auch auf praktischer Ebene erweitern. Die junge Forscherin, Performerin und Choreografin (Granada, 1988) blickt in „Bailes de histéricas“ nach Innen, und sie nimmt Bezug auf die großen Tänzerinnen des „Neo-Flamencos“ der 80er Jahre.

Die Ausgangssperre des Corona Virus erwischte Carmen Muñoz während der Proben in Sevilla mit der Kompanie Estévez/Paños, so dass sie beschloss, die nächste Zeit im Haus ihrer Familie in Granada zu verbringen und nicht nach Barcelona zurückzukehren, wo sie seit 2017 lebt. In „Bailes de histéricas“ erforscht sie die stilistischen Eigenheiten der Tänzerinnen Fanny Elssler, Manuela Vargas, Carmen Mora und La Chana und begibt sich auf eine Reise durch ihre Körper, um ihren eigenen Tanz zu entdecken. Die endgültige Uraufführung des Werkes wurde aufgrund der Gesundheitskrise verschoben, aber sie nützte diese Pause zur Vertiefung dieser zu einem Bühnenstück gewordenen Forschungsarbeit.

Nach deiner Ausbildung in Úbeda, Granada, Sevilla und Madrid bist du vor drei Jahren nach Barcelona gekommen.

Ich ging zuerst nach Barcelona um mit Pol Jiménez zu arbeiten, und ich war sehr interessiert, es gab etwas, das im Zusammenhang mit Flamenco meine Aufmerksamkeit erregte, ich fühlte mich völlig verstanden. In Madrid befand ich mich in einem Register, dem des spanischen Tanzes, und ich musste aus diesem Format herauskommen. Ich machte meine Ausbildung in Choreografie und Performance am Tanzkonservatorium in Madrid und beschloss, sie am CSD des Institut del Teatre zu beenden, mein Studium in Barcelona abzuschließen und die Richtung zu wechseln.

Vor „Bailes de histéricas“ hattest du bereits mehrere eigene Stücke präsentiert. Welche Dinge inspirieren dich zu deiner Arbeit?

Seit meiner Ausbildung in Flamenco und spanischem Tanz habe ich mich immer sehr zum zeitgenössischen Tanz hingezogen gefühlt, ich war auf der Suche nach meiner eigenen Sprache und habe damit experimentiert. Aber nach Vallejo und Catalina war es die Flamencotradition, die mich inspiriert hat, vor allem die Cantaores. Ich habe immer gerne studiert, ich habe alle Informationen in mich aufgenommen und sie auf die Bühne gebracht. In „Bailes de histéricas“ ist mein Interesse am Studium der Vergangenheit immer noch vorhanden, aber ich habe es in den gegenwärtigen Körper transferiert. Barcelona hat meine Vorliebe für das Traditionelle geweckt, dafür, die Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen und in meinen heutigen Körper.

Das Barcelona, von dem du sprichst, in welchen Menschen und an welchen Orten kommt es zum Tragen?

Ich habe am Institut del Teatre studiert und ich hatte Lehrer, die mich geprägt haben, wie Juan Carlos Lérida, Lipi Hernández und Guillermo Weickert. Das Laboratorio de Investigación Flamenco am Institut war ebenfalls entscheidend; auch meine Kollegen, denn ihre Art, Tanz zu sehen, unterscheidet sich von der meiner Tänzerkollegen in Madrid. Ich habe auch bei José Manuel Álvarez studiert und getanzt, der mich sehr inspiriert und mich dazu gebracht hat, meine Rolle im Flamenco in Frage zu stellen.

Der Körper verwandelt sich

Hinter „Bailes de Histéricas“ steht eine Studie und eine rigorose Beobachtung, wie sich die vier Tänzerinnen bewegen, du sprichst über Form, Inhalt und Gefühl, war das der Ausgangspunkt, um es dann in deinen Körper zu übertragen?

Dies war meine Abschlussarbeit im Institut , wodurch ich Zeit hatte, zu forschen. Ich begann mit einer rigorosen Studie der Körper, ich analysierte sie alle: diese Bewegung ist frontal, diese ist kurvenreich, diese ist eher zurückhaltend… Ich lernte ihre Tänze auswendig und ich erkannte, dass ich in die Subjektivität springen musste, um sie in meinem Körper herauf zu beschwören. Ich schuf mit jeder von ihnen eine Figur, die mir, abgesehen von der Anatomie des Körpers, in ihrer Darstellung helfen würde, sie von der Energie her anders anzulegen.

Warum diese vier Tänzerinnen?

Ich wählte sie, weil sie Pionierinnen waren, sie öffneten die Türen, und wir anderen kamen herein und nährten uns von dieser Art zu tanzen. Zuerst wählte ich Carmen Mora, Manuela Vargas und La Chana, die alle in den 80ern in ihren besten Jahren waren. Ich bin 1988 geboren und befinde mich genau zwischen ihrer und der gegenwärtigen Ära. Ich identifiziere mich mit ihren Tänzen. Es war schön, in diesen Spiegel zu sehen, wodurch ich mich mit jeder von ihnen identifiziert habe. Mit Carmen Mora, ihrer Tiefgründigkeit, ihrem nach innen gerichteten Blick; mit Manuela Vargas, die die Energie zurückhält, bis sie sie nicht mehr ertragen kann; und mit La Chana, die durch ihre Improvisation über den Moment hinausgeht und an einen anderen Ort gelangt, an dem alles mögliche passieren kann. Ich liebe es, wenn ich nicht weiß, was passieren wird. In diesen Tänzerinnen finde ich mich wieder.

Fanny Elßler war eine österreichische Tänzerin der Danza española des 19. Jahrhunderts, was bringt sie in das Stück ein?

Als Ausgangspunkt brauchte ich eine Figur mit einer unschuldigeren Ausstrahlung als die anderen drei. Fanny Elßler tanzte nach außen, für das Publikum war sie nicht leidenschaftlich wie die anderen, ihre Bewegung war frontal, seitlich und vertikal. In „Bailes de histéricas“ mache ich eine Reise von außen, dem extrovertierten Teil, zu mir, zu Carmen Muñoz, da schaue ich in mich hinein.

Was sind diese Tänze der Hysterie?

Ich habe diesen Titel gewählt in Bezug auf dieses Bild der kranken Frauen, die man sich immer schreiend vorstellt. Damals wurden auch die Tänzerinnen des Modern Dance so genannt. Ich habe das auf meinen Tanzstil übertragen, auf den introspektiven Teil des Stücks. Ich habe mir meine eigene Hysterie ausgedacht als einen Vorwand, um über mein Tanzen zu sprechen.

Wie umfangreich war der Schöpfungsprozess?

Ich habe viel gelesen: Penelope Pulpóns Dissertation über die Flamencas der 80er Jahre; Bücher wie Didi-Hubermans „Erfindung der Hysterie“; oder Freuds Studien zum gleichen Thema. Ich wollte auch die von Ärzten organisierten Hysteriesitzungen mit Publikum nachempfinden, die im Pariser Krankenhaus La Salpêtrière im 19. Jahrhundert von den Ärzten organisiert wurden.

In diesen Sitzungen gab es Schauspielerinnen, die sich verwandelten, sich windend, als ob sie vor Hysterie krank wären, es waren performative Akte, um die Krankheit zu zeigen. Also beschloss ich, meine eigenen Hysterie-Sitzungen zu machen und zeigte meine Fortschritte anderen Künstlern, Kollegen und Tutoren, damit sie mir helfen konnten. Ich ging auch zur Information in die Nationalbibliothek. Ich interviewte Belén Maya über ihre Mutter, Carmen Mora, und Isabel Bayón, die mir von Manuela Vargas erzählte.

Wie ist der Zusammenhang im Stück mit dem Modern Dance?

Sowohl der Modern Dance als auch die Hysterie sind ein Substrat, das mir bei meiner Untersuchung von Körpern geholfen hat. Ob real oder imaginär, ich finde eine Verbindung zwischen Pionierinnen, denen des Modernen Tanzes und denen des Flamencos; zwischen der Improvisation von La Chana und der bahnbrechenden Improvisation, die der Moderne Tanz in Bezug auf das klassische Ballett hatte. Von den Tänzen der Hysterikerinnen interessierten mich die Fotos, auf denen sie bei der Aufführung zu sehen waren, diese sehr verdrehten Körper, die mir für den letzten Teil, für meinen eigenen Tanz, gedient haben.

Wie ist dieser Tanz?

Es ist eine Soleá und sie besteht darin, das Richtige und Notwendige zu tun, mit sich selbst eins zu sein und fast nichts zu tun, sodass die ganze Hysterie nach innen geht. Dies wird durch eine rücksichtslose Arbeit der Selbstbeobachtung erreicht.

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Aktiver Hausarrest

Während sie darauf wartet, ob „Bailes de histéricas“ im Juni endlich im Hiroshima-Saal in Barcelona präsentiert werden kann, arbeitet Carmen Muñoz weiter an ihrem Stück, bei dem sie der Sänger Pepe de Pura begleiten wird.   Als vielseitige Darstellerin ist sie Teil mehrerer künstlerischer Projekte, die während dieser Wochen der Eingeschlossenheit auf den Bildschirmen fortgesetzt wurden.

Sie arbeitet dem Kollektiv Lxs Empíricxs weiter um so bald wie möglich die im März abgesagte Vorstellung wieder aufzunehmen; am vergangenen 12. April nahm sie zusammen mit ihren Kollegen an der Improvisation von DOCE teil, die Juan Carlos Lérida als szenisches Stück angeboten hat; für die Plattform Performing 19 führte sie ihr Stück „Vallejo“ auf auf. Auch das körperliche Training findet bei ihr keine Pause. Das Verlangen, weiter künstlerisch zu arbeiten und zu wachsen, überwindet jede Schwierigkeit, so bedrohlich sie auch sein mag.

INTERVIEW: SARA ESTELLER / FOTOS: KAZUMAS HORIUCHI / ÜBERSETZUNG: SUSANNE ZELLINGER

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Catalina Mía

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