Nachdem ich in diesem Jahr wie viele andere nicht zur Bienal fahren kann – aus wohlbekannten Gründen – habe ich JournalistenkollegInnen gebeten, mir ihre Beiträge zur Verfügung zu stellen, hier die erste von Juan Vergillos.
Triller, das Flattern der Tauben
In der Musik ist keine einzige Note zu viel, keine einzige Geste in der Choreographie. Die Lehre, die das Stück vermittelt, ist, dass jeder Augenblick unserer Existenz heilig ist. Einzigartig. Unwiederholbar. Es gibt keine toten Momente, alles ist wesentlich. Jeder Augenblick zählt. Rocío Molina hat einige ihrer Identitätsmerkmale aufgegeben und ein größeres Werk hervorgebracht. Zur Ironie, zu den Auswüchsen der Wut. Sie hat dem Zapateado fast abgeschworen, weil er, wenn er kraftvoll und streng erscheint, gleichzeitig subtil und intim ist. Ein Streicheln.
Und das macht ihn noch tödlicher, zutiefst bedeutsam. Lärm mit Stille zu bekämpfen, kann eine weitere Lektion sein. Molina hat eine delikate Partitur geschaffen, um Riquenis Musik neu zu erschaffen, zu illustrieren, zu kommentieren, zu übertragen und wieder zu genießen. Sie hat, wie auch der Gitarrist, die Sprache der Vögel gelernt. Das Zwitschern, das Flattern der Tauben im Parque María Luisa, als ein guter Teil der Themen, aus denen sich das Werk zusammensetzt, gehören zu diesem großen Zyklus des sevillanischen Gitarristen. Wenn der Protagonist von La serpiente blanca die Erleuchtung erlangt, ist das erste Zeichen dieses neuen Bewusstseinszustandes das Verstehen der Sprache der Vögel. Auch dieses Werk ist ein Märchen, in dem Molina als Patin fungiert, als junge Frau in Klausur, die unter freiem Himmel atmen möchte. Wie ein Riese und eine Elfe. Schmerz und Buße. Es ist ein gotisches Märchen, umrahmt von sanftem Weiß. Durch die Zärtlichkeit. Durch die Zurückhaltung, durch die Süße. Es findet in den Wolken statt, projiziert auf denTeppich, auf dem Molina tanzt.
Eine andere oder dieselbe mögliche Lehre des Werkes besteht darin, dass diese Geheimsprache für uns alle erreichbar ist: es genügt, das Fenster zu öffnen und die Augen zu heben. Intensität und Freiheit. Wie jedes Meisterwerk bricht das Stück die fiktiven Grenzen zwischen Kultiviertem und Populärem, denn die Grammatik ist tiefgründig und gleichzeitig wird sie von anderen szenischen Sprachen genährt, vom Kabuki bis zu den plastischen Künsten von Sevilla, die in diesem Jahr plötzlich flüchtig waren, da unerwartet das Ende dieses Stücks kam, das niemals enden wird, weil wir nicht aus diesem Traum in dem anderen Alptraum erwachen wollen.
Wir haben eine Prozession in den Wolken gesehen, eine religiöse Zeremonie im Wohnzimmer unseres Hauses. Der ausdrückliche Mangel an Wut bedeutet nicht, dass es an Kraft fehlt, denn Molina ist eine sehr körperbetonte Tänzerin. Aber das Werk oszilliert zwischen Melancholie und Freude. Sehr viel Freude. Freude an offenen Räumen, klarem Himmel. Bäume, Lilien und Pflanzen. Triller und das Flattern der Tauben.
Text: Juan Vergillos
Fotos: Claudia Ruiz Caro