Die Stunde des Wolfes heißt der erste, irritierende Abschnitt der neuen Arbeit der chilenischen Zwillingsschwestern Florencia Oz und Isadora O’Ryan. Dieser Moment des beginnenden Tages, zwischen Nacht und Morgengrauen, in der die meisten Menschen sterben und die meisten Kinder geboren werden ist auch der Moment der tiefsten (Alp)träume in der die Ängste am deutlichsten zu Tage treten.
Nun in eben diesem Moment kämpfen sich die beiden Schwestern durch ein Gewirr von Tönen und Geräuschen im diffusen Licht. Verbunden durch die Nabel-Schnur, dachte ich aus der Ferne, aber nein, es war ein langer Zopf, in den sie sich ein und aus wickelten, im zeitgenössischen Muster der Wiederholung. Die Gesten haben keine Bedeutung, auch wenn man da so gerne etwas hinein interpretieren möchte. Die Haare schon, nicht nur im zeitgenössischen Tanz und damit auch im modernen Flamenco, sondern auch im wirklichen Leben, egal in welcher Kultur, die Haare der Frauen sind von Bedeutung: sie werden gefärbt, gepflegt, verdeckt, abgeschnitten oder rasiert und gern als Bestrafung verwendet. Sie kommen in vielen Letras vor, eine davon singt Pepe de Pura an diesem Abend: Lo que más me dolió es que me cortaron mi pelo …..
Das Spiel mit dem Zopf, der sie verbindet, reizen sie vielleicht zu sehr aus, es bewegt sich im Kreis, aber auch das hat natürlich seine Bedeutung: In jeder Religion und Kultur wird dem Kreis eine besondere Bedeutung beigemessen und er wird als einheitliche Form und Symbol der Vollkommenheit und Ganzheit verehrt.
Der Kreis bildet ein Innen, definiert, integriert, bestimmt, was dazugehört. Er grenzt ab, schließt auch aus, bestimmt das, was nicht dazugehört.
Das Stück ist voll von Anspielungen und Metaphern, ein dichtes, intensives Eindringen in die Welt der Frau, getragen von diesen beiden Schwestern, beide Künstlerinnen, die mit ihrem letzten Stück Antípodas zu Tränen rührten. Diesmal war das nicht der Fall, aber fesselnd war es, auch wenn die übliche Frage auftauchte, was denn so ein Stück auf einer Bienal de Flamenco zu suchen hatte. Denn tänzerisch zeigte Florencia nur in der Soleá, wo ihre Wurzeln sind.
Die großartige Gitarre von Jesús Torres und die bestechende Präsenz von Pepe de Pura traten zu Unrecht in den Hintergrund, aber das Stück braucht wahrscheinlich noch ein paar Korrekturen, damit es wirklich berührt.
En este día, en este mundo – ein schönes Stück mit einem vielversprechenden Titel, aber hier hätte es – auch auf die Gefahr hin mich zu wiederholen – eine Einführung gebraucht, aber was nicht ist, kann ja noch werden.
Bienal de Sevilla
En este día, en este mundo
Florencia Oz und Isidora O’Ryan
Teatro Central
16.10.2024
Fotos: Laura León
Text: Susanne Zellinger