Vom Schlachthaus ins Paradies
Eines der Stücke über die man eigentlich einen Roman oder zumindest einen Essay schreiben müsste, eröffnete für mich die Bienal de Sevilla. Ein kleines Programmheft für die unschuldigen Zuschauer*innen wäre hilfreich gewesen, obwohl man den Abend auch einfach so genießen konnte, ohne zu verstehen, worum es diesem unglaublich belesenen und in allen möglichen Künsten versierten Andrés Marín eigentlich geht.
Viele Themen werden in diesem großartigen Stück gestreift und natürlich geht es hier auch um ihn selbst, obwohl er das bestimmt vehement abstreiten würde.
‚Es geht darum, das Paradies zu töten, um ein eigenes zu schaffen, das nicht hermetisch und nostalgisch ist, sondern das jeder Mensch selbst schafft.`, sagt er in einem der Interviews, für mich sagt jedoch der erste, in goldenen Lettern projizierte Satz, der die verschiedenen Episoden einleitet, viel über diese besonderen Menschen aus, die auf dieser Erde wandeln:
In der unermesslichen Wüste des Lebens folgt mir die Einsamkeit wie ein Schatten.
Das erste Bild, das mir in Erinnerung bleiben wird ist dieser einsame Mann mit nacktem Oberkörper, der die Bühne beherrscht, sie ausfüllt und dennoch allein ist, wie viele Künstler oder Visionäre, die Dinge sehen und fühlen, die uns Normal Sterblichen für immer verborgen bleiben. Daher ihr Glanz aber auch ihre Einsamkeit.
Der Schlächter ist Antonio Campos, der gleich zu Beginn ein Schaf in seine Einzelteile zerlegt – fachmännisch übrigens, denn wie viele Gitanos kommt er aus einer Familie in der dieser Beruf typisch war – dazu singt er natürlich mit seiner mächtigen Stimme und wischt sich Gott sei Dank die Hände ab, bevor er zur Gitarre greift.
Keine Ahnung woher mein innerer Widerstand kommt, rohes Fleisch zu berühren, als A.M. und A.M. sich ein Fleischstück mit dem Mund zuwerfen, wende ich den Blick ab und gehe kurz in mich – aber das ist nur ein Detail.
Die Szene hat auch etwas Intimes, Sinnliches, Sexuelles, Rohes und da wären wir wieder beim Fleisch, obwohl sich kurz danach der goldene Tabernakel öffnet, die Orgel ertönt – die herrliche Susana Hernández ‘Ylia’ ist auch für den Soundscape verantwortlich – , Andrés Hostien verteilt und zwei Armaos aus der Centuria Romana der Virgen Macarena mit ihren Cornetas und den weißen Federbüschen auf dem Kopf auftauchen und damit die dritte Protagonistin einführen, die Semana Santa.
In einer denkwürdigen Szene kriechen die A.M.s unter einen riesigen, knisternden Goldteppich und tauchen mit den Capirotes wieder auf, wickeln sich ein, verschmelzen und schaffen einen Moment berückender Schönheit.
Ana Morales tanzt, und wie sie tanzt – einfach großartig in ihrem Duett Por Sevillanas, die so noch nie zu sehen waren, und wie gut die beiden zusammen passen, wie ein Paar Schuhe mit goldenen Borduren.
Am Ende wird noch eine Kirche aus Pappe gebaut – was für ein Symbol, in deren Portal sie verschwinden, die Nacktheit vermeidend, die hier eine logische Konsequenz gewesen wäre, sie verschwinden, als wäre nichts gewesen, und doch war hier so viel. Tosender Applaus.
Matarife/Paraíso
Andrés Marín & Ana Morales
Teatro Central, 14.10.2024
Fotos: Laura León
Text: Susanne Zellinger