Gelsenkirchen ist ein sehr spezieller Ort. Eine der ärmsten Städte Deutschlands, früher die Stadt der 1000 Feuer, Heimat des Fußballclubs Schalke 04als ich einen der Jungen hier fragte, ob er gerne hier leben würde, sagte er: „No, you know, it’s a sad place.“ Was für ein Statement, was für eine Story.
Nun, das schöne ist, dass selbst an solchen Orten Schönes entsteht, wenn man sich anstrengt oder es zulässt. Der Verein Lalok Libre veranstaltet nicht nur das Dinamiko Festival, es arbeitet auch das ganze Jahr über mit Kindern aus sozial benachteiligten Familien, unter ihnen viele Sinti und Roma, die unter anderem Flamencounterricht von Victor Castro erhalten. Mit einem zauberhaften Auftritt am Eröffnungsabend stellten sie das Gelernte unter Beweis, gefolgt von einem Auftritt ihres Lehrers, den sie begeistert anfeuerten.
How to make a sad place happier
Der Auftritt von Rafaela Carrasco im Festsaal einer Schule erscheint im Nachhinein wie der Ausschnitt aus einem Film, aber dennoch wurde eines klar: Künstler, die einen so trostlosen Ort mit einem strahlenden Licht erfüllen können, könnten dies auch auf einem Kartoffelacker. In einem ehrwürdigen Theater aufzutreten erscheint dagegen wie ein Kinderspiel.
Mit vereinten Kräften gelang es dennoch eine schöne Lichtregie und einen hervorragenden Sound zu arrangieren, die Bühne war etwas zu hoch, aber Gymnastik hat ja noch niemandem geschadet und so reckte man eifrig die Hälse um einen Blick auf die Füße der Tänzerin zu erhaschen.
Und dann kamen die Zuschauer in den seltenen Genuss, Rafaela Carrasco einmal nicht in einem konzeptuellen, durcharrangierten Stück zu sehen, sondern in einem Tablaoformat der allerersten Kategorie.
Antonio Campos und Miguel Ortega hatten sichtlich Spaß an der Sache und ihre Solis arteten fast schon in einen Wettkampf aus und erschlich sich Antonio Campos zuerst einen Platz in den Herzen der Aficionados mit seinem Tientos so verdrängte ihn wenig später Miguel Ortega mit einer Seguiriya, die es in sich hatte.
Auch der wunderbare Jesús Torres und Juan Antonio Suárez ‚Canito’ an den Gitarren waren überzeugend und inspiriert wie immer. Das Solo von Canito „Los cuatro muleros“ ist eine Komposition, die die Jahre überdauern wird, was sie ja auch schon getan hat, aber jedes Mal ist man wieder überrascht über ihre Kraft und ihre Feinheit, diese gezähmte Wildheit, die an den Panther von Rilke erinnert, in einigen Minuten erzählt Canito da ein ganzes Leben.
Wenn die beiden Gitarren sich dann vereinigen wie am Beginn der Soleá, klingen sie wie ein ganzes Orchester und bereiten Rafaela Carrasco einen fulminanten Einstieg, den sie zu nützen weiß. Da holt sie die ganze Welt zu sich herein, sie hat die Reife, die Erdigkeit und die Kraft, die es in diesem Palo braucht, sie verlangsamt das Tempo und schließt die Augen, ihre Präsenz ist atemberaubend, sie ist eine der wegweisenden Tänzerinnen und Choreografinnen der 70-er Generation und beweist das jedes mal nachdrücklich und eindeutig. Auch im Festsaal einer Schule im tiefen Westen.
Das Festival in Gelsenkirchen hielt aber noch weitere Überraschungen bereit. Mehr darüber in Kürze.
Rafaela Carrasco ‚A Tiempo’
Dinamiko Festival Gelsenkirchen
11.05.2019
Fotos Rafaela: Albrecht Korff