Aus aktuellem Anlass Ausschnitte aus einem Interview mit Niño de Elche (2014). Er wird bei der Biennale in Holland am 21. Januar David Lagos  in Dju Dju ersetzen, weil der andere Verpflichtungen hat. Ein interessanter Wechsel, der sicher auch das Stück verändern wird. Wie? Das werden wir sehen.

Francisco Contreras Molina, besser bekannt unter dem Namen Niño de Elche stammt aus der Provinz Alicante. Mit 8 Jahren beginnt er Gitarre zu spielen und steht schon mit 10 Jahren zum ersten mal auf der Bühne. Schon bald wendet er sich dem Cante zu und hier liegt sein wahres Talent. Er nimmt an Wettbewerben teil und gewinnt einen Preis nach dem anderen. So hätte es weiter gehen können, wenn er nicht begonnen hätte gegen den Strom zu schwimmen und hartnäckig seine eigenen Ziele zu verfolgen. Er ist im Moment der einzige Avantgarde Sänger im Flamenco und je schwieriger ein Projekt ist, umso reizvoller findet er es.

Seine Performances sind oft ein Protest gegen das Bürgertum und die kapitalistische Gesellschaft, gegen Machtmissbrauch und die grausame Herrschaft der Finanzmärkte und der korrupten Politiker, die ihr Fähnchen nach dem Wind richten. Er rezitiert, er schreit, er verzerrt, er springt mit der Springschnur und klemmt sich eine Wäscheklammer an die Unterlippe, er grillt sich auch schon mal ein Kotelett. Unbequem? Anstrengend? Kann sein, aber auch faszinierend, interessant und politisch. Wie gesagt: Viele gibt es nicht von seiner Art, aber der Cante könnte mehr davon gebrauchen.

Bei deinem Auftritt anlässlich der Eröffnung des Kinofestivals in Sevilla hast Du etwas ziemlich außergewöhnliches gezeigt. Was war denn das?

Das war die X. Edition und da musste ich an die Kinos X denken, diese alten Pornokinos aus den 80er Jahren und ich wollte schon seit einiger Zeit über Erotik und Pornografie im Flamenco arbeiten. Der Videokünstler mit dem ich zusammen arbeite hat dann Szenen aus Filmen zusammengeschnitten, die eben das zum Thema hatten und die Eröffnung des Festivals war der ideale Moment. Pedro G. Romero hat mir beim Aussuchen der Texte geholfen. Der zweite Text war von Apollinaire, er beschrieb eine Szene zwischen einem Torero und einer spanischen Sängerin in einem Café Cantante und der erste Text ist ein Gedicht von T.S.Eliot mit dem Titel „The Love Song of San Sebastian“. Darin geht es um Sadomasochismus im homosexuellen Milieu, das Lied singe ich auch in meinem Programm „VaconBacon“.

Was interessiert dich an diesem Thema?

Es interessiert mich einfach, was nicht heißt, dass ich Sadomasochismus praktiziere auch wenn die Leute das glauben oder sich in ihrer Fantasie vorstellen. Im Flamenco, in der Musik oder überhaupt in der Kunst haben so viele Elemente Platz, auch die extremsten und radikalsten und ich erinnere mit meinen Texten auch an die Zeit der 20er und 30er Jahre des letzten Jahrhunderts, als der Flamenco völlig frei von Tabus war, es war einfach alles erlaubt.

Willst du auch provozieren?

Zuallererst denke ich an die Sachen, die ich machen möchte und die mit mir zu tun haben, außerdem arbeite ich niemals allein, ich glaube nicht an den Künstler als Individuum, ich glaube an die kollektive Kunst, die im Flamenco leider nicht die Regel ist. Die Provokation? Da kann schon ein kleiner Teil davon vorhanden sein, aber manchmal willst du provozieren und dann passiert nichts, also denkt man am besten gar nicht daran. Mich interessiert der Arbeitsprozess, die Annäherung an das Thema und da versuche ich auch zu vermeiden, dass die Außenwelt zuviel Einfluss nimmt auf das was ich mache, die Provokation soll nicht zum künstlerischen Selbstzweck werden.

Wo haben sie dich eigentlich gefunden?

Mich hat niemand gefunden, es ist vielmehr so wie Juan Ramón Jiménez sagt: Du findest immer deinesgleichen und ich finde Leute, die zu mir passen in dem ich sie einfach anrufe oder ich fahre gleich hin und lade sie zum Essen ein, da hab ich gar kein Problem…

Einige Menschen, die dich interessieren, sind ja schon gestorben, wie zum Beispiel der Dichter Miguel Hernández dessen Gedichte du auf deiner letzten CD vertont hast.

Das erste, was mich an ihm fasziniert hat war sein politisches Bewusstsein und erst dann seine Gedichte, man hat ja um ihn herum alles mögliche konstruiert, er ist ein richtiger Mythos.

Inwiefern?

Vor allem für die politische Linke ist er ein Vorbild durch das was er getan hat und wie er seine Ansichten bis zum Ende kompromisslos verfolgt hat. Er hatte ein unglaubliches soziales Bewusstsein, er war ein großer Kämpfer.

Außerhalb von Spanien ist er ja nicht sehr bekannt.

Er wurde von allen politischen Bewegungen auf die eine oder andere Weise benützt, jede hat sich einen Maßanzug aus dem Dichter Miguel Hernández geschneidert, ähnlich wie es bei Che Guevara passiert ist. Die Geschichten dieser mythischen Persönlichkeiten wurden von Personen konstruiert, die ihn gar nicht kannten, oft fern von der historischen Wahrheit und mit Miguel Hernández ist genau das passiert. Vor einigen Jahren sagte die Kulturbeauftragte seiner Heimatstadt Orihuela in einer Rede, dass wir Hernández rein gar nichts zu verdanken haben, also kannst du dir vorstellen wie schwierig das alles ist.

Wann ist Hernández eigentlich gestorben?

1942. Zuerst haben sie ihn zum Tode verurteilt und dann zu einer Gefängnisstrafe von 30 Jahren. Während dieser Zeit bekam er dann Tuberkulose und sie haben ihn einfach sterben lassen. Sie mussten ihn nicht einmal töten, Lorca war ja schon erschossen worden und das Regime wollte keinen zweiten Märtyrer schaffen.

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Du bist ein sehr politischer Mensch.

Ich bin aus Alicante und wenn du ein politisches Bewusstsein hast oder eine gewisse innere Unruhe dann ist der erste Mensch, der dich in dieser Gegend interessiert Miguel Hernández, so wie Lorca für die jungen Menschen in Granada oder Alberti für die Gaditanos. Jede Stadt hat ihre Ikonen. Ich begann dann seine Gedichte zu vertonen und entdeckte, dass er sich mit vielen Dingen beschäftigte, die auch heutzutage in diesem Land ein Thema sind.

Wie zum Beispiel?

Die Ikonoklastik, die Zerstörung der Natur, die sozialen Themen wie die Ausbeutung der Kinder, die Abschaffung der Gefängnisse, oder besser die Ablehnung der Gefängnisse als Besserungsinstrument, er war ja selbst in 13 verschiedenen Gefängnissen.

Du singst seine Gedichte nicht nur in Flamencopalos.

Meine Inspiration kommt aus verschiedensten Quellen und logischerweise ist eine der wichtigsten der Flamenco, aber eben nicht ausschließlich. Mich beschäftigt mehr was ich erzählen will und die Kunst ist nichts anderes als mein Werkzeug. Das Gedicht oder der Text ist das wichtigste für mich, denn die Musik kann sich an die Worte anpassen. Umgekehrt ist das um einiges komplizierter. Die Musik hat keine feste Struktur, sie besteht aus freien Tönen, die sich wie ein Seidentuch um das Gedicht legen. Ob dieses Tuch jetzt Flamenco oder klassisch ist, kümmert mich nicht, es passt sich dem Gedicht an.

Für mich sind die Strukturen des Flamenco weder heilig noch unantastbar, sie machen es dir einfach oft schwer, eine Geschichte zu erzählen, also müssen sie aufgebrochen werden. Aber wenn mir eine Struktur nützlich ist, verwende ich sie natürlich.

Aber in deinen Anfängen hast du Flamenco gesungen, oder?

Ich denke, das tue ich immer noch, nicht mehr so klassisch vielleicht und manchmal etwas anders.

Wer ist mehr flamenco, Mayte Martín oder Tom Waits?

Eben, da wird es viele Leute geben, die auf Tom Waits tippen. Was ist denn Flamenco? Eine Struktur, ein Ton, eine Sprache, eine Lebensweise? Da sollte jeder einzelne seine Schlüsse daraus ziehen. Ich bin da völlig frei.

Hast du ein Problem dich anzupassen?

Nein, überhaupt nicht. Ich fliehe ja auch nicht vor dem Flamenco, ich hole ihn hervor, wenn ich ihn brauche, ich verteidige ihn nicht und ich zerstöre ihn nicht. Das ist kein Kreuz, das ich trage ich muss aber ich betone auch nicht immer, dass ich flamenco bin. Diese Etikettierungen langweilen mich, genauso wie die Frage der Nationalitäten, sich damit zu beschäftigen ist reine Energievergeudung.

Im Moment gibt es ja nicht viele Sänger, die sich so weit aus dem Fenster lehnen wie du.

Tja, vom wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen ist das ja gut für mich, weil ich keine Konkurrenz habe, aber in Wirklichkeit empfinde ich es als eine Niederlage für den Cante. Während der Pressekonferenz auf der letzten Bienal habe ich gesagt, dass mein Triumph nicht darin besteht, dabei zu sein sondern zu erreichen, dass meine Kollegen auf mich aufmerksam werden und sehen was ich tue. Sie interessieren sich nur für mich, wenn ich mit zeitgenössischen Tänzern arbeite oder wenn mich ein Fernsehteam interviewt, ich fände es einfach total spannend wenn andere junge Sänger etwas Neues machen würden mit einer neuen, zeitgemäßen Ästhetik. Es ist nicht einfach, das weiß ich am besten, auf der traditionellen Schiene fährt man sicherer.

Wie hast du begonnen?

Mein Vater war ein Aficionado und ich begann schon sehr früh zu singen, allerdings hörte ich nichts was ihm gefiel. Da war José Mercé, José de la Tomasa, Menese, Fosforito, El Lebrijano

Und natürlich Camarón. Camarón war der erste, der mich beeinflusst hat und meinen ersten Wettbewerb habe ich mit 12 Jahren mit einer Bulería von Camarón gewonnen.

Warum singst du?

Ich experimentiere mit der Stimme ich singe aus der Anstrengung heraus, aus der Erschöpfung, aus der Spannung, dem Schmerz und extremen Gefühlzuständen.

Das impliziert auch einen gewissen Mut zur Hässlichkeit, oder?

In der Kunst gibt es für mich nichts, was hässlich ist.

Aber natürlich gibt es das!

Das geht dann in die Richtung, dass hässliche Dinge keine Kunst sind. Es gibt doch nichts Hässlicheres als die Wirklichkeit! Die Leute entrüsten sich über Dinge, die sie auf der Bühne sehen mehr als über das was im Nebenhaus passiert. Aber das ist der heuchlerischen Erziehung zuzuschreiben, die wir erfahren haben und nicht ein Problem der Kunst oder der Künstler.

Ich arbeite nicht aus dieser Perspektive heraus, wenn ich arbeite, denke ich nicht darüber nach ob etwas hässlich ist oder nicht, ich denke daran, was ich erzählen will. Die Frage der Ästhetik kommt erst danach. Wenn ich etwas über eine mental kranke Person erzählen will sind hübsch oder hässlich keine Kategorien. Das ist absurd und du erlegst dir selbst Grenzen auf.

http://www.flamencobiennale.nl/en/festival/dju-dju-nederlandse-premiere/